Fragestellungen der Studie:

  • Nach welchen Kriterien diagnostizieren Lehrkräfte unterschiedlicher Schulformen in ihrer täglichen Unterrichtspraxis?
  • Inwiefern liegt gewählten Differenzierungsmaßnahmen eine vorangegangene Diagnostik zugrunde?

Rezension zur Studie

Letzel, V., Otto, J. & Schneider, C. (2019). „Ich hoffe, dass ich treffsicher bin.“ Eine qualitative Studie zu Diagnosekriterien und Differenzierungsmaßnahmen der Lehrkräfte. In H. Knauder & C.-M. Reisinger (Hrsg.), Individuelle Förderung im Unterricht. Empirische Befunde und Hinweise für die Praxis (S. 69–84). Münster: Waxmann.

Der Zunahme an Vielfalt in den sozialen Lebenslagen von Schülerinnen und Schülern entspricht eine Zunahme an Heterogenität in Lerngruppen. Damit auf die Heterogenität mit Maßnahmen der Individualisierung bzw. Binnendifferenzierung reagiert werden kann, bedarf es zuvor diagnostischer Verfahren. Gegenwärtig besteht ein Desiderat in der Frage nach den Zusammenhängen von Diagnostik und individualisierender bzw. differenzierender Unterrichtsgestaltung von Lehrkräften. Ebenso ungeklärt ist, an welchen Kriterien Lehrkräfte ihr diagnostisches Handeln ausrichten, sofern sie überhaupt jenseits obligatorischer Leistungsmessung diagnostisch arbeiten. Vor diesem Hintergrund fragt das Autorentrio:

  1. Nach welchen Kriterien diagnostizieren Lehrkräfte unterschiedlicher Schulformen in ihrer täglichen Unterrichtspraxis?
  2. Inwiefern lassen sich Hinweise auf eine den gewählten Differenzierungsmaßnahmen vorangegangene Diagnostik finden?

Die Beantwortung beider Fragen stützt sich auf qualitativ-inhaltsanalytische Auswertungen von halbstrukturierten Leitfadeninterviews mit je sechs Lehrkräften aus Gymnasien und integrierten Gesamtschulen (IGS) in der Region Trier. In den Interviews zeigt sich, dass die interviewten Lehrkräfte die Kriterien ihrer Diagnostik häufig nicht explizieren und zumeist nicht auf eine präzise Fragestellung zurückgreifen, welche die Basis von Diagnostik bilden sollte. Eine theoretische Fundierung des diagnostischen Handelns ist nicht zu ermitteln. Hinsichtlich der Bezüge zwischen Diagnostik und Differenzierungsmaßnahme lassen sich keine übergreifenden Aussagen aus den Interviews ableiten. Allerdings zeigte sich, dass IGS-Lehrkräfte facettenreicher differenzieren und Differenzierungsmaßnahmen eher passgenauer zu den Diagnosen ausfallen als es bei gymnasialen Lehrkräften der Fall ist. Auffällig ist auch der Befund, dass die interviewten Lehrkräfte von Gesamtschulen dem Umgang mit Heterogenität positiver gegenüberstehen als die interviewten gymnasialen Lehrkräfte.

Der Beitrag greift mit der Frage nach den Zusammenhängen von Diagnostik und individualisierender bzw. differenzierender Unterrichtsgestaltung ein relevantes Desiderat auf. Doch ist die empirische Basis zu begrenzt, um verallgemeinerbare Aussagen aus den Befunden abzuleiten. Hinzu kommt, dass ausschließlich Lehrkräfte mit den Fächern Deutsch und/oder Englisch interviewt wurden und die Operationalisierung vor allem hinsichtlich der zweiten Forschungsfrage Schwächen aufweist.

Mit Blick auf die interviewten Sekundarlehrkräfte bestätigt der Beitrag die weithin geteilte Vermutung, dass Zusammenhänge zwischen Diagnostik und der eingesetzten Differenzierungsmaßnahmen bei Lehrkräften eher lose und kaum theoriegestützt sind. Die Studie bewegt sich zudem in dem Bereich der Frage danach, inwiefern sich tatsächlich auch schulformbezogene Spezifika auf die Diagnosekompetenz von Lehrkräften auswirken, kann hier jedoch keine generellen Aussagen treffen.

Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.

Reflexionsfragen für Lehrkräfte:

  • Welche diagnostischen Verfahren kenne ich?
  • Welche diagnostischen Verfahren wende ich neben der leistungsbezogenen Diagnostik (wann und warum) an?
  • Auf Grundlage welcher theoretischen, fachlichen und didaktischen Inhalte leite ich aus meinen diagnostischen Befunden Differenzierungsmaßnahmen ab?
  • Evaluiere ich meine Diagnose- und Differenzierungspraxis (und wenn ja: wie)?

Reflexionsfragen für Schulleitungen:

  • Bestehen auf Fachschaftsebene Beschlüsse über eingesetzte diagnostische Verfahren?
  • Verfügen die einzelnen Fachschaften über Differenzierungsinstrumentarien, die an gängigen diagnostischen Befunden ansetzen?
  • Ist das Förder- und Forderkonzept der Schule mit einer etablierten Diagnosepraxis verzahnt?

 

Neben der Zunahme an Vielfalt in den sozialen Lebenslagen der Schülerinnen und Schüler bedingen auch die Befunde einschlägiger internationaler Vergleichsstudien einen – auch bildungspolitisch geforderten – Wandel der Unterrichtspraxis zu mehr Individualisierung bzw. Binnendifferenzierung. Individuelle Förderung, so führt das Autorentrio aus, lässt sich in diesem Zusammenhang als Maximalforderung verstehen. In extremer Auslegung läuft dies auf eine individuelle Passung des Unterrichts für jede Schülerin und jeden Schüler einer Lerngruppe hinaus, also jedes Mitglied einer Lerngruppe erhält ein individuell passendes Lernangebot. Demgegenüber wird Binnendifferenzierung unterschieden, welche die Förderung von Subgruppen innerhalb einer Lerngruppe vorsieht, sodass zwischen den einzelnen Lerngruppen Unterschiede im Lernangebot bestehen, jedoch nicht innerhalb einer Subgruppe.

Die Autorinnen und der Autor führen aus, dass zwischen Heterogenität auf der einen und Individualisierung bzw. Binnendifferenzierung auf der anderen Seite die Diagnostik zu verorten ist: Schließlich würden die auf eine heterogene Lerngruppe angewandten individualisierenden bzw. differenzierenden Maßnahmen erst dann effektiv wirken, wenn eine adäquate Diagnosephase den Maßnahmen derart vorausgeht, dass sie Auswahl sowie Ausgestaltung der Maßnahmen bedingt. Aus diesem Grund sei die pädagogische Diagnostik integraler Bestandteil der professionellen Arbeit von Lehrkräften, mithin ein wesentlicher Kompetenzbereich von Lehrkräften aller Schulformen (vgl. KMK, 2014). Diagnostik markiere dabei nicht nur den Anfang von Lernprozessen. Ebenso könne Diagnostik Lernprozesse abschließen, zum Beispiel durch die Auswertung von Klassenarbeiten. Folglich haben diagnostische Verfahren auch eine Selektionsfunktion, welche etwa bei der Einordnung in verschiedene Kursniveaustufen oder bei Versetzungsentscheidungen zutage tritt.

Diagnostische Urteile können auf unterschiedlichen Analyseebenen zustande kommen. Das Autorentrio unterscheidet in ihrer Studie kognitive und nichtkognitive Merkmale. Zu den kognitiven Merkmalen lassen sich z.B. Intelligenz, fachliche Leistungen oder Begabungen zählen. Affektive Verhaltensmuster oder allgemeine Persönlichkeitsmerkmale von Schülerinnen und Schülern werden den nichtkognitiven Merkmalen zugerechnet.

In der empirischen Unterrichtsforschung konstatiert das Autorenteam ein seit Jahren zunehmendes Interesse bezüglich des Umgangs mit Heterogenität. „[D]och welche Kriterien Diagnostik insgesamt in der Praxis zugrunde liegen, ist bislang nicht ausreichend erforscht“ (S. 71). Obzwar einzelne Aspekte der Diagnostik in Studien untersucht werden, ist unbekannt, ob und wie Diagnosen die Unterrichtsgestaltung bedingen. Dieser an sich bemerkenswerte Umstand gewinnt den Autorinnen und dem Autor zufolge an Bedeutung vor dem Hintergrund von Inklusion, Migration und individueller Förderung. Letzel et al. setzen in ihrem Beitrag – dessen institutionelle Rahmung das Projekt „Binnendifferenzierung in Schulpraxis an den Sekundarschulen der Region Trier“ darstellt – an der Verknüpfung von Diagnose und den daraus abgeleiteten Handlungen von Lehrkräften an. Sie leiten aus den Zusammenhängen von Heterogenität, Diagnostik und Individualisierung/Binnendifferenzierung zwei Fragen für ihren Beitrag ab:

Forschungsfrage 1: Nach welchen Kriterien diagnostizieren Lehrkräfte unterschiedlicher Schulformen in ihrer täglichen Unterrichtspraxis?

Forschungsfrage 2: Inwiefern lassen sich Hinweise auf eine den gewählten Differenzierungsmaßnahmen vorangegangene Diagnostik finden?

Zur Beantwortung der beiden Forschungsfragen wurden aus der Region Trier zwölf Lehrkräfte mit den Fächern Deutsch und/oder Englisch interviewt. Sechs dieser Lehrkräfte unterrichteten an Gymnasien. Die übrigen sechs Lehrkräfte kamen von integrierten Gesamtschulen (IGS).

Die Interviews waren als halbstrukturierte Leitfadeninterviews angelegt. Die Codierung der gewonnenen Interviewdaten erfolgte unter Hinzunahme des Computerprogramms MaxQDa. Mittels qualitativer Inhaltsanalysen wurden die Volltranskripte der Interviews ausgewertet. Hierfür entwickelte das Autorentrio ein Kategoriensystem, das deduktive und induktive Elemente kombiniert und am Ende des Auswertungsprozesses zu 176 kodierten Sinneinheiten führte. Die Interkoderreliabilität lag bei 0.75.

Mit „Diagnosekriterien“ und „Differenzierungsmaßnamen“ wurden entsprechend der beiden Forschungsfragen zwei Hauptkategorien gebildet, denen das Autorenteam folgende aus dem Forschungsstand abgeleitete Subkategorien zuordnet:

Diagnosekriterien:

  1. kognitiv
  • qualitative und quantitative Leistungsmerkmale
  • Statusdiagnostik
  1. nichtkognitiv
  • sozial
  • motivational
  • Lebensbesonderheiten

Differenzierungsmaßnahmen:

  • Abgestufte Aufgaben und Materialien
  • Gezielte Zusammensetzung von Schülergruppen
  • Helfer- und Tutorensysteme
  • (Gestufte) nonverbale Lernhilfen
  • Zielerreichendes Lernen
  • Öffnung des Unterrichts (Autonomiegewährung)

Diagnose (Forschungsfrage 1):

Insgesamt 90 Kodierungen aus den Interviews entfallen auf die Hauptkategorie Diagnostik. Diese wiederum unterteilen sich in 51 Kodierungen für „kognitive Merkmale“ und in 39 Kodierungen für „nichtkognitive Merkmale“. Es stammen fast doppelt so viele Aussagen in der Kategorie „kognitive Merkmale“ von den sechs IGS-Lehrkräften gegenüber den Aussagen der gymnasialen Lehrkräfte. Betrachtet man die Lehrkräfte vom Gymnasium und IGS zusammen, entfallen 73% aller Kodierungen innerhalb der Kategorie „kognitive Merkmale“ auf die Subkategorie „qualitative/quantitative Leistungsmerkmale“. Die 22 Kodierungen der IGS-Lehrkräfte innerhalb dieser Subkategorie betreffen Aussagen zu fehlenden Grundkompetenzen der Schülerinnen und Schüler und deren Sprachdefizite. Die sechs Kolleginnen und Kollegen vom Gymnasium thematisieren zu „qualitativen/quantitativen Leistungsmerkmalen“  (16 Kodierungen) vorrangig schriftsprachliche Defizite. Ein weiterer Unterschied zwischen den Lehrkräften vom Gymnasium und der IGS besteht darin, dass letztgenannte Gruppe die diagnostizierte Heterogenität nicht nur defizitorientiert interpretiert. Vielmehr schätzen die IGS-Lehrkräfte die Arbeit mit heterogenen Lerngruppen. Demgegenüber fühlen sich gymnasiale Lehrkräfte durch Heterogenität stärker herausgefordert. Die andere kognitive Subkategorie im Bereich der kognitiven Merkmale stellt die Statusdiagnostik dar, auf die insgesamt 13 Kodierungen entfallen. Acht davon stammen von IGS-Lehrkräften. In deren Aussagen wird die Diagnose von sonderpädagogischem Förderbedarf, die Feststellung von Leistungsstufen sowie die Zuteilung von Niveaukursen thematisiert. Auch zeigt sich, dass sich die IGS-Kolleginnen und -Kollegen in ihrer Diagnosefähigkeit relativ sicher fühlen. Die fünf Kodierungen der gymnasialen Lehrkräfte betreffen externe Diagnosen zu Hochbegabungen und Legasthenie.

Die Kategorie „nichtkognitive Merkmale“ umfasst 39 Kodierungen, welche sich etwa gleich auf die Lehrkräfte beider Schulformen verteilen. Inhaltliche Unterschiede zwischen den Schulformen betreffen vor allem die Subkategorie „soziale Merkmale“. Die Kodierungen der IGS-Lehrkräfte thematisieren Verhaltensauffälligkeit, eingeschränkte Beschulbarkeit und familiäre Probleme. Gymnasiale Lehrkräfte heben eher die Unterschiede im Wert von Bildung innerhalb der unterschiedlichen sozialen Schichten hervor. In der Subkategorie „motivationale Merkmale“ zeigen sich kaum Unterschiede zwischen den Schulformen. In der Subkategorie „Lernbesonderheiten“, zu der aus beiden Schulformen je vier Kodierungen vorliegen, wird schulformunabhängig von ADHS berichtet. Zudem thematisieren die gymnasialen Lehrkräfte emotionale Lernbesonderheiten bei hochbegabten Schülerinnen und Schülern. Die IGS-Lehrkräfte benennen unangepasstes Sozialverhalten.

Mit Blick auf die erste Forschungsfrage ist festzuhalten, dass je nach Kategorie und Subkategorie in quantitativer wie qualitativer Hinsicht unterschiedlich viele Differenzen zwischen den betrachteten Schulformen bestehen. Die Diagnosekriterien werden nicht immer explizit verbalisiert, erfassen aber größtenteils Aspekte wie Motivation, Arbeitsverhalten, Noten, Leistungsfeststellung und extern diagnostizierte Merkmale (vgl. S. 76f). Dennoch muss das Autorentrio konstatieren, dass den diagnostischen Handlungen weder präzise Fragestellungen vorausgingen, noch dass die diagnostischen Entscheidungen theoretisch fundiert wären (vgl. S. 79f).

Passungsverhältnis von Diagnose und Differenzierungsmaßnahme (Forschungsfrage 2):

In den Interviews nennen die Gymnasiallehrkräfte durchschnittlich 7,3 Diagnosen und die Kolleginnen und Kollegen von der IGS durchschnittlich 7,6 Diagnosen. Bei der Anzahl an Differenzierungsmaßnahmen klafft eine größere Lücke, da die erstgenannte Gruppe durchschnittlich auf 5,6 und die IGS-Lehrkräfte auf 8,6 Maßnahmen verweisen. Letzel et al. betonen, dass dies nichts über das Passungsverhältnis von Maßnahme und Diagnose aussage. Außerdem ergänzen sie, dass wegen der spezifischen Schülerschaft in beiden Schulformen keine schulformvergleichende Aufbereitung der Daten zur Passung von Diagnose und Differenzierungsmaßnahme erfolge. Stattdessen werde auf Falldarstellungen zurückgegriffen.

Es zeigt sich bezüglich Forschungsfrage zwei, „[…] dass eine sinnvolle Abstimmung von Diagnose und pädagogischer Entscheidung auch schulformunabhängig offensichtlich nicht immer gegeben ist, [i]st dies aber der Fall, ist ein höherer Lernerfolg zu erwarten“ (S. 79). Die Lehrkräfte der IGS differenzieren vielfältiger und die ausgewählten Differenzierungsmaßnahmen passen eher zur Diagnose als bei den Lehrkräften vom Gymnasium. Dies erklärt sich das Autorentrio dadurch, dass die heterogenere Lerngruppenzusammensetzung an einer IGS eine differenziertere Unterrichtsgestaltung erfordere, damit Lernziele erreichbar werden. Hinter dem Umstand, dass die interviewten gymnasialen Lehrkräfte seltener mit Differenzierungsmaßnahmen auf die Heterogenität ihrer Schüler reagieren, vermuten Letzel et al. eine Fokussierung der Lehrkräfte auf das gleiche abschließende Lernziel aller Gymnasiastinnen und Gymnasiasten.

Zum Hintergrund: Wie das Autorentrio zu Recht betont, besteht ein Desiderat in der Frage nach den Zusammenhängen von Diagnostik und (individualisierender) Unterrichtsgestaltung von Lehrkräften. Ebenso ungeklärt ist, an welchen Kriterien Lehrkräfte ihr diagnostisches Handeln ausrichten, sofern sie überhaupt jenseits der obligatorischen Leistungsmessung diagnostisch arbeiten. Dieses Desiderat ist insofern überraschend, da genaue Diagnosen von Merkmalen der Schülerinnen und Schüler eine Prämisse für deren individuelle Förderung im Unterricht bilden. Vor diesem Hintergrund werden im Theorieteil die Begriffe „Heterogenität“, „Diagnostik“ und „Individualisierung bzw. (Binnen-)Differenzierung“ bestimmt und die Zusammenhänge zwischen ihnen rekapituliert. Ferner fundiert das Autorentrio „pädagogische Diagnostik“ als eine Schlüsselkompetenz von Lehrkräften, weshalb das aufgezeigte Desiderat zusätzlich erstaunt. Somit geht die Studie gerade für die Professionalisierung von Lehrerinnen und Lehrern hoch relevanten Fragestellungen nach.

Zum Design: Die Herleitung der beiden Forschungsfragen des Beitrags ist nachvollziehbar, die Stichprobe ist hinreichend beschrieben. Dies gilt auch für die eingesetzten Instrumente der Datenerhebung, Codierung und der Auswertung inklusive der angewandten Kategorien und Subkategorien. Der Interviewleitfaden wird allerdings nicht transparent vorgestellt; dies hätte das induktive wie deduktive Vorgehen transparenter veranschaulicht. Die Interkoderreliabilität wird dargelegt, zu anderen Gütekriterien besteht keine Aussage. Chronologisch erfolgt die Darstellung der Datenerhebung und der Datenanalyse. Dies ist auch der transparenten und sachlogischen thematischen Progression im Beitrag zu verdanken.

Gerade hinsichtlich der zweiten Forschungsfrage wäre es zielführend gewesen, genauer (theoretisch) zu begründen, worin denn die "Passung" zwischen Diagnose- und gewählter Differenzierungsmaßnahme auszumachen ist. So wird jedoch (kategorial unscharf) die Passung über die Häufigkeit des Einsatzes bestimmter Differenzierungsmaßnahmen dargelegt und dies auch entsprechend vage formuliert ("sodass hier der Eindruck gezielt an die diagnostizierten Bedürfnisse der Schülerschaft angepasster Maßnahmen entsteht", S. 77). Letztlich wäre eine solche Passung auch nur valide zu analysieren, wenn die tatsächlichen Förderbedarfe der Schülerinnen und Schüler erfasst worden wären.

Kritisch ist zudem anzumerken, dass aufgrund der geringen Stichprobe die Aussagekraft der Untersuchung eingeschränkt ist. Zusätzlich begrenzt die Verallgemeinerbarkeit der Umstand, dass die befragten Lehrkräfte ausschließlich die Fächer Deutsch und/oder Englisch unterrichten. Informationen zu den Jahrgangsstufen, in denen die Lehrkräfte unterrichten, liefern Letzel et al. nicht. Die Autorinnen und der Autor legen selbst die diversen Einschränkungen ihrer eigenen Untersuchung dar.

Zu den Ergebnissen: Da die empirische Basis der Untersuchung Verallgemeinerungen ausschließt, trägt der Beitrag zum Abbau des oben genannten Desiderats nur eingeschränkt bei. Einerseits belegen die Antworten der sechs gymnasialen Lehrkräfte und ihrer sechs Kolleginnen und Kollegen aus der Gesamtschule, dass Diagnosekriterien in Bezug auf die Stichprobe häufig nicht explizit verbalisiert, geschweige denn theoretisch fundiert werden. Zudem lassen sich aus den Antworten keine übergreifenden Zusammenhänge zwischen gestellten Diagnosen und eingesetzten Differenzierungsmaßnahmen ableiten, was viele Fragen in Richtung Systemsteuerung aufwerfen lässt, angesichts dessen, dass Diagnose als eine zentrale Kompetenz von Lehrerinnen und Lehrern gilt. Ob andererseits die interviewten Lehrkräfte aus der Region Trier paradigmatisch für Lehrkräfte in Deutschland sind, bleibt offen. So lässt sich aus der Untersuchung nicht mehr – aber auch nicht weniger – ableiten, als dass die zwölf Lehrkräfte außerhalb des Bewertungskontextes kaum systematisch oder theoriegestützt diagnostizieren und dass eingesetzte Differenzierungsmaßnahmen zumeist in keinem kausalen Zusammenhang zu vorherigen Diagnosebefunden stehen. Das Autorentrio räumt abschließend ein, dass in dem der Untersuchung zugrundeliegenden Setting nicht erhoben werden konnte, […] wie treffsicher die gemachten Diagnosen sind, da keine angeschlossenen standardisierten Messungen erfolgten“ (S. 80).

Aus den Befunden lassen sich Hinweise zu Anschlussuntersuchungen mit repräsentativer empirischer Basis ableiten. Aufschlussreich wären Untersuchungen, welche die Diagnosepraxis und die eingesetzten Differenzierungsmaßnahmen im Unterrichtsgeschehen in den Fokus rücken und schüler- bzw. schülerinnenbezogen die Diagnostikweisen von Lehrkräften untersuchen. Wünschenswert wäre zudem die Untersuchung, wie Schülerinnen und Schüler die Diagnostik- und Differenzierungspraxis ihrer Lehrkräfte wahrnehmen und inwiefern sie Erziehungsberechtigten transparent gemacht werden.

Schließlich erscheint es womöglich lohnend, solche Untersuchungen auch im Hinblick auf schulformspezifische Unterschiede zu verfolgen, um bei evidenter Erhärtung der in der vorliegenden Studie gefundenen Hinweise zu schulformbezogenen Differenzen auch steuerungsseitig adäquate Maßnahmen, etwa in der Lehrerbildung, ergreifen zu können.

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Diese Rezension wurde erstellt von:
Dr. Holger Braune, Schulleiter an der Freien Christlichen Gesamtschule Düsseldorf

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