Fragestellungen der Studie:
Rezension zur Studie
Hajisoteriou, C., Karousiou, C. & Angelides, P. (2018). Successful components of school improvement in culturally diverse schools. School Effectiveness and School Improvement, 29(1), 91–112.FIS BildungInterkulturelle Erziehung ist vor dem Hintergrund von Globalisierung, Migration und der damit verknüpften kulturellen Diversität der Schülerinnen und Schüler ein bedeutsames Thema für Schulentwicklung, um Schul- und Bildungserfolg, barrierefreie gesellschaftliche Teilhabe sowie soziale Gerechtigkeit für alle zu ermöglichen.
Daher untersuchen Hajisoteriou et al. in einer Fallstudie am zyprischen Bildungssystem, welche Gelingensbedingungen für interkulturelle Schulentwicklung identifiziert werden können. Die Datenerhebungen an 10 Schulen umfassten teilstandardisierte Interviews mit 10 Schulleitungen, 20 Lehrkräften, 40 Schülerinnen und Schülern (je 20 mit/ohne Migrationshintergrund), 40 Elternteilen sowie ganztägige Unterrichtsbeobachtungen (je Lehrkraft fünf Wochen lang einmal pro Woche).
Als Kernelemente kristallisieren sich das „Gehörfinden“ aller Schülerinnen und Schüler, sozioemotional und kulturell sensibles Unterrichten sowie eine verstärkte Einbindung der Eltern heraus. Der Schulleitung kommt hierbei eine zentrale Rolle zu, um erfolgreiche schulische Gemeinschaften zu etablieren und die Stärkung interkultureller Kompetenzen zu fördern.
Die Studie liefert anhand eines Fallbeispiels relevante Erkenntnisse zur Exploration von Gelingensbedingungen für die interkulturelle Schulentwicklung.
Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.
Reflexionsfragen für Lehrkräfte:
Reflexionsfragen für Schulleitungen:
In der Einleitung verdeutlichen Hajisoteriou et al., dass gesellschaftliche Veränderungen in der Postmoderne im Zuge der Globalisierung, Migration und Inklusion ebenso auch die Schulen zu entsprechenden Adaptationen auf struktureller und prozeduraler Ebene herausfordern. Dabei entfaltet sich ein Spannungsfeld, einerseits den Standardisierungs- und Effizienzbestrebungen und andererseits den Forderungen nach Gleichheit, sozialer Gerechtigkeit und Kohäsion angemessen entgegenzutreten. Das Autorenteam schlussfolgert, dass interkulturelle Erziehung und Bildung in diesem Kontext ein gewinnbringendes Bindeglied darstellen kann, um den beiden angesprochenen Zieldimensionen genügen zu können.
Das Autorenteam macht weiterhin deutlich, dass an diesen Veränderungsprozessen zum einen alle schulischen Akteure zu beteiligen sind. Zum anderen vertreten sie die Ansicht, dass Schulentwicklungsmaßnahmen in erster Linie durch die Schule und die darin involvierten Akteure zu betreiben sind. Dabei stellen sie fest, dass Schulentwicklung im Kontext von interkulturellen bildungsbezogenen Veränderungen ein bislang nur wenig erforschtes Feld ist. Zwar finden sich viele Ansätze zur Veränderung und Verbesserung von Schule. Zugleich existieren verschiedene Konzeptionen für interkulturelle Bildung und Erziehung. Beide Diskursstränge, d. h. Schulentwicklung einerseits und interkulturelle Bildung und Erziehung andererseits, würden jedoch bislang nicht (ausreichend) aufeinander bezogen. Dies erscheine erforderlich, um die mit Schulentwicklung und interkultureller Bildung und Erziehung verbundenen Ansprüche von Leistungsfähigkeit, Bildungserfolg, gesellschaftlicher Teilhabe und Überwindung von sozialer Ungleichheit einlösen zu können.
Vor diesem Hintergrund konzeptualisieren Hajisoteriou et al. ihr Verständnis von Schulentwicklung. Dabei werden zunächst einige Definitionen zu diesem Konstrukt benannt. Und sie stellen heraus, dass es in diesem Zusammenhang in erster Linie darum gehen sollte, weniger die schulische Struktur, sondern vielmehr die Schulkultur zu verändern. In gängigen Konzeptualisierungen zur Schulentwicklung wird aus Perspektive des Autorenteams die kulturelle Diversität der Schülerinnen und Schüler zu häufig vernachlässigt. Letztere sollte jedoch mehr Berücksichtigung finden, um tatsächlich Qualität und Gleichheit herstellen zu können. In diesem Entwicklungsprozess gelte es jedoch nicht, das alles erklärende und ‚heilbringende‘ Schulentwicklungsmodell zu finden (‚one-size-fits-all model‘), sondern vielmehr passgenaue, je nach Schulkontext, Schülerschaft, sozioökonomischem Hintergrund etc. unterschiedlich ausgestaltete Entwicklungsmaßnahmen und Verfahrensweisen. In diesen spielen nach Meinung des Autorenteams mehrere Schulfaktoren (z. B. Schulklima, Leitungshandeln), Unterrichtsfaktoren (z. B. Unterrichtsklima, Unterrichtsqualität) und Merkmale der Lehrkräfte (z. B. Arbeitsbedingungen, Professionalisierung) eine wichtige Rolle. Dabei erachten sie die Schule selbst als Zentrum der Veränderung. Veränderung ergibt sich von innen heraus und wird weniger durch externe Einflüsse induziert.
Im Anschluss an diese Ausführungen konzeptualisieren Hajisoteriou et al. ihr Verständnis von interkultureller Bildung und Erziehung. Sie verdeutlichen einleitend, dass dieses Konstrukt in der Literatur unterschiedlich beschrieben wird. Es wird zwischen den beiden Polen ‚Essentialismus‘ und ‚Hybridität‘ aufgespannt: Der essentialistischen Sichtweise zufolge sind Gemeinschaften als separate, einheitliche kulturelle Identitäten zu verstehen. Der hybriden Sichtweise nach unterliegt den Kulturen eine permanente Dynamik, Vermischung, Gleichheit und Andersartigkeit zugleich. So wird in dieser Denkfigur nicht von monolithischen, sondern von ethnisch-nationalen, ethnisch-lokalen, ethnisch-politischen Identitäten ausgegangen. Dabei ist es wichtig, den permanenten Entwicklungscharakter der Individuen, kulturellen Gruppen und Sprachen zu berücksichtigen. Dies führt zu Konsequenzen auf unterschiedlichen sozialen Ebenen (Makro-, Meso- und Mikroebene). Neuerdings werden dabei aus der Perspektive des Autorenteams Aspekte der interkulturellen Bildung und Erziehung mit Gedanken aus der kritischen Pädagogik und sozialer Gerechtigkeit zusammengeführt. Sie schlussfolgern deswegen, dass interkulturelle Erziehung und Bildung und soziale Gerechtigkeit einen sozialen und bildungsbezogenen, transformativen Aktivismus implizieren, sodass alle Kinder und Jugendlichen in der Gesellschaft partizipieren und zur Entwicklung von Schule beitragen können.
Nach diesen Ausführungen wird zur Kontextualisierung ihrer Fallstudie das Bildungssystem von Zypern beschrieben: Es handelt sich um ein stark zentralisiertes, bürokratisches System. In diesem wurde kürzlich eine Reform initiiert, die zur vermehrten Berücksichtigung von Aspekten interkultureller Erziehung und Bildung im nationalen Bildungsplan führte. Letzterer beschreibt die Schule als einen demokratischen Raum, der für alle Lernenden sinnstiftend zu gestalten ist, ganz gleich, welche Differenzmerkmale dabei in Erziehungs- und Bildungsprozessen eine Rolle spielen. Diesem hohen ideologischen Anspruch begegnet jedoch eine technokratische, rationale und kontrollierende bildungspolitische Agenda. Schulische Akteure sind demnach in Zypern durch dieses bildungspolitische ‚Korsett‘ in ihrer Autonomie eingeschränkt. Das Ziel des Beitrags ist es, diesen Personengruppen als ihrem Verständnis nach Hauptakteuren für bedeutsame schulische Veränderungsprozesse in Fragen der Interkulturalität und Verständigung mit ihren Erfahrungen ‚Gehör‘ zu schenken.
Vor dem skizzierten Hintergrund leiten Hajisoteriou et al. ihre Fragestellung ab:
Welche Faktoren bedingen interkulturelle Schulentwicklung?
Stichprobe: Zur Beantwortung ihrer Forschungsfragen wurde eine Mixed-Method-Studie durchgeführt. In den fünf Bezirken Zyperns (Nicosia, Limassol, Larnaca, Famagusta, Paphos) wurden pro Bezirk an zwei Schulen mit hohen Migrationsanteilen innerhalb der Schülerschaft Interviews und Unterrichtsbeobachtungen durchgeführt. Insgesamt nahmen 10 Schulleitungen, 20 Lehrkräfte, 40 Schülerinnen und Schüler sowie 40 Elternteile von 10 Schulen teil. Pro Schule partizipierten also die Schulleitung, 2 Lehrkräfte, 4 Schülerinnen und Schüler (je 2 mit/ohne Migrationshintergrund) sowie 4 Elternteile. Die 20 Lehrkräfte wurden jeweils 5 Mal über einen ganzen Schultag hinweg im Unterricht begleitet und beobachtet.
Instrumente: Die halbstandardisierten Interviews mit den schulischen Akteuren wurden entlang der Kategorien Erfahrungen, Bedenken und Vorstellungen für eine interkulturelle Schulentwicklung geführt. Zu diesen Kategorien wurden Fragen zur Aufrechterhaltung und Vertiefung bereitgestellt. In den teilnehmenden Unterrichtsbeobachtungen wurden Vorkommnisse in den Blick genommen, die einen Bezug zur interkulturellen Erziehung aufwiesen (Gruppendynamik, Verhalten der Schülerinnen und Schüler, Einstellungen der Lehrkräfte, biographische Merkmale und Unterrichtsverhalten).
Analysen: Die Ergebnisse aus den Beobachtungen und Interviews wurden nach ihrer Transkription in einem mehrschrittigen und literaturgeleiteten Verfahren innerhalb der Gruppe der Forschenden diskutiert, strukturiert, reorganisiert, kategorisiert und letztlich synthetisiert.
Aus den Interviews und Beobachtungen kristallisieren sich drei überlappende Kernthemen heraus: 1) die Schaffung von inklusiven Schulkulturen, 2) allen Schülerinnen und Schülern ‚Gehör schenken‘ und 3) die Förderung von elterlicher Eingebundenheit.
Schaffung von inklusiven Schulkulturen: Dieses Kernelement wird von allen Befragten als bedeutsam für die Schulentwicklung angesehen. Es geht darum, dass sich Gemeinschaften aus Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern sowie Eltern bilden, die sich weiterentwickeln und voneinander lernen können. Dabei wird die Rolle der Schulleitung als zentral benannt. Sie ist für die notwendigen kulturellen und strukturellen Bedingungen verantwortlich, um diese Gemeinschaften zu schaffen, Empowerment zu ermöglichen und dadurch eine systemische Weiterentwicklung zu fördern.
Allen Schülerinnen und Schülern ‚Gehör schenken‘: dieses Kernelement verdeutlicht, allen Kindern und Jugendlichen Aufmerksamkeit entgegenzubringen - denen mit und denen ohne Migrationshintergrund. Im Fokus sollten ihre soziokulturellen Bedürfnisse und Emotionen liegen. Sie sollten systematisch in wichtige schulische Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Insbesondere die, die sich schwer erreichen lassen, sollten eingebunden werden, um ihnen Kooperationserfahrungen und damit verbundene Erfolgserlebnisse zu ermöglichen. Insofern sind Lehrkräfte herausgefordert, einen sozioemotionalen Unterrichtsstil zum Aufbau einer emotionalen Grundfähigkeit zu pflegen, sodass Freundschaften über die Kulturen hinaus entstehen, Vorurteile abgebaut werden, Empathie für andere und Problemlösefähigkeiten gefördert werden.
Elterliche Eingebundenheit: dieses Kernelement meint, erfolgreiche Netzwerke zwischen der Schule und den Eltern zu errichten. Es hat einen Einfluss auf Schulentwicklung, steht positiv in Verbindung mit Schülerleistungen, Drop-out-Minderung, Einstellungen gegenüber der Schule und der Wertschätzung von Erziehung und Bildung. Dabei wird elterliche Einbindung als eine Form sozialen Kapitals verstanden.
Hintergrund
Die Studie von Hajisoteriou et al. greift vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen im Zuge von Globalisierung, (Flucht-)Migration, Inklusion, Förderung sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit ein für die Administration und für die Schule relevantes Forschungsdesiderat auf. In einer Mixed-Method-Studie, in welcher Interviews mit mehreren schulischen Akteuren (Schulleitungen, Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern sowie Eltern) und Unterrichtsbeobachtungen durchgeführt wurden, werden Kernaspekte für die interkulturelle Schulentwicklung herausgearbeitet.
Die Relevanz dieser Studie ergibt sich aus bislang nur bedingt aufeinander bezogenen Diskursen zur Schulentwicklung und interkulturellen Erziehung und deren Konsequenzen für Gelingensbedingungen im Kontext einer interkulturellen Schulentwicklung, die sich einerseits der Förderung schulischer Leistungen aller Lernenden und andererseits der Förderung gesellschaftlicher Teilhabe, interkultureller Verständigung und sozialer Gerechtigkeit verschreibt. Der Reihe nach fokussieren Hajisoteriou et al. auf Konzeptualisierungen der Schulentwicklung und interkulturellen Erziehung. Dabei arbeiten sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus. Anschließend beleuchten sie den bildungspolitischen Hintergrund auf Zypern. Die Argumentationsweise und Hinführung zur eigenen Studie erscheinen aus Sicht des Rezensenten gelungen.
Design
Das Studiendesign und die Durchführung werden ausführlich und gut begründet benannt. Die durch die Befragung verschiedener schulischer Akteure generierte Multiperspektivität auf das Phänomen ‚interkulturelle Schulentwicklung‘ wird von Seiten des Rezensenten als sehr bereichernd erachtet. Die Angaben zu den verwendeten Leitfäden und Beobachtungsbögen ermöglichen einen ausreichenden Nachvollzug zur Datenerhebung. Für mehr Transparenz und einen vertiefenden Einblick wären jedoch Anhänge (z. B. online) der Leitfäden oder Raster für die Feldnotizen während der Beobachtungen wünschenswert gewesen. Die Beschreibung der Datenauswertung erfolgt unter Verweis auf einen in der Literatur bekannten Auswertungszyklus. Jedoch wird nicht klar benannt, welcher erkenntnistheoretischen Annahme dabei gefolgt wird. Handelt es sich um ein eher inhaltsanalytisch-strukturierendes Vorgehen? Oder ist es eher hermeneutisch ausgestaltet? Wurde dabei auf eine bestimmte erkenntnistheoretische Schule rekurriert?
Ergebnisse
Die Zielstellung der Untersuchung wird erreicht. Das Autorenteam arbeitet die Schaffung inklusiver Kulturen, dem ‚Gehör schenken‘ der Stimme der Schülerinnen und Schüler sowie die elterliche Eingebundenheit als wesentliche Kernelemente interkultureller Schulentwicklung heraus. Dabei betonen sie die Verantwortung aller schulischen Akteure für die Realisierung dieser Kernelemente. Insbesondere nehmen sie dabei die Schulleitung in die Pflicht, um entsprechende Prozesse zu initiieren, zu moderieren und Gelegenheiten zur Kommunikation zu schaffen. Gleichzeitig stellen sie dafür notwendige Persönlichkeitsmerkmale heraus: Energie, Empathie, Zuversicht, moralische Intentionen, Beziehungsarbeit, Austausch und Wissensgenerierung.
Das Autorenteam diskutiert keinerlei Limitationen ihrer Studie. Dies wäre aus Sicht des Rezensenten aber wünschenswert gewesen. Es bleibt z. B. nach der Lektüre unklar, inwiefern die herausgearbeiteten Kernelemente interkultureller Schulentwicklung an den jeweiligen Standorten nicht nur zu einer positiven Wahrnehmung, interkulturellen Verständigung und sozialemotionalen Wertschätzung der beteiligten schulischen Akteursgruppen beitragen, sondern auch, welche (positiven) und ggf. auf den kurzfristigen bis langfristigen Bildungserfolg der Schülerinnen und Schüler bezogenen Folgen (inklusive ihrer Referenzsysteme) aus diesem Kontext heraus beobachtbar sind.
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