Fragestellungen der Studie:

  • Führt eine positive Einstellung zur Inklusion zu einer stärkeren Anwendung der individuellen Bezugsnorm in der Leistungsbeurteilung?
  • Führt eine positive Einstellung zu den Bildungsstandards zu einer stärkeren Anwendung der kriterialen und sozialen Bezugsnorm in der Leistungsbeurteilung?
  • Führt die Beschäftigung mit Inklusion versus Bildungsstandards je nach Einstellung zu unterschiedlicher Anwendung von Bezugsnormen in der Leistungsbeurteilung?

Rezension zur Studie

Holder, K. & Kessels, U. (2018). Lehrkräfte zwischen Bildungsstandards und Inklusion: Eine experimentelle Studie zum Einfluss von "Standardisierung" und "Individualisierung" auf die Bezugsnormorientierung. Unterrichtswissenschaft, 46(1), 87–104.FIS Bildung

Aktuell existieren das Konzept der Individualisierung (hier am Beispiel Inklusion) und das der Standardisierung (Bildungsstandards) in den deutschen Schulen gleichzeitig. Ob sich diese Konzepte konträr gegenüberstehen oder ergänzen, ist ein offenes Forschungsfeld. Die Leistungsbewertungen bei beiden Ansätzen stehen sich jedoch konträr gegenüber: Während beim Ansatz der Inklusion eine individuelle Bezugsnorm herangezogen wird, beziehen sich Leistungsbewertungen nach Bildungsstandards auf eine soziale und kriteriale Bezugsnorm. Diese angenommenen Widersprüche beider Bezugsnormen gilt es zu untersuchen; und die vorliegende Studie setzt ihren Schwerpunkt dabei darauf, inwiefern Individualisierung und Standardisierung die Bezugsnormorientierung beeinflussen können. Dazu sind die Einstellungen von 57 Lehrkräften im Vorbereitungsdienst zu den Ansätzen „Inklusion“ und „Bildungsstandards“ erfasst worden und im Anschluss sind diesen in einem variierten Verfahren entweder ein Informationstext über Inklusion oder aber ein Informationstext über Bildungsstandards an die Hand gereicht worden. Die Probanden sind daraufhin gebeten worden, Leistungsentwicklungen und Testergebnisse von fiktiven Schülerinnen und Schülern zu bewerten.

Die Auswertung der erhobenen Daten hat gezeigt, dass eine Konfrontation mit Bildungsstandards in Kombination mit der Einstellung diesen gegenüber einen Einfluss auf die Bezugsnormorientierung hat. Bei einer positiven Einstellung ist stärker nach der sozialen Bezugsnorm bewertet worden und bei einer negativen Einstellung stärker nach der individuellen Bezugsnorm. Die Konfrontation mit dem Informationstext über Inklusion hat jedoch keinen Einfluss auf die Bezugsnormorientierung gezeigt.

Die Studie zeigt Ergebnisse zu einer Thematik, die bisher noch nicht vertieft erforscht worden ist. Die Ergebnisse können zur Reflexion von Bezugsnormorientierungen und zur Diskussion über das potentielle Spannungsverhältnis von Individualisierung und Standardisierung genutzt werden.  Die Aussagekraft der Studie ist jedoch aufgrund ihrer kleinen Stichprobe gering.

Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.

Reflexionsfragen für Lehrkräfte:

  • Welche Bezugsnormorientierung wende ich zumeist an? Welche Bezugsnorm nutze ich bei Schülerinnen und Schülern mit besonderem Förderbedarf?
  • Wie bin ich gegenüber der Inklusion eingestellt und wie gegenüber Bildungsstandards? Positioniere ich mich für eine der beiden Themenfelder? Sehe ich sie als Gegensatz?
  • Wie könnte ich Inklusion in meinem Unterricht berücksichtigen und dennoch Rücksicht auf Bildungsstandards nehmen? Sind beide Themengebiete miteinander vereinbar?
  • Versuche ich Inklusion in meinem Unterricht anzuwenden, ohne dass ich die Thematik ausreichend verstanden habe? Wie gut bin ich über beide Themengebiete informiert? Wie schätze ich meine Kompetenzen in Bezug auf beide Themengebiete und die gemeinsame Anwendung beider im Unterricht, insbesondere bei der Leistungsbeurteilung, ein? Was kann ich tun, um Wissen und Kompetenzen zu fördern?
  • Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit im Kollegium im Hinblick auf die Themengebiete Inklusion und Bildungsstandards? Existiert ein Spannungsverhältnis zwischen Kollegen, die sich für das Thema der Inklusion positionieren, und denen, die sich für das Thema der Bildungsstandards positionieren? Was kann getan werden, um die Kooperation zu fördern?

Reflexionsfragen für Schulleitungen:

  • Inwiefern gibt es an unserer Schule eine Verständigung über die Anwendung von Bezugsnormen in der Leistungsbeurteilung?
  • Welche Einstellung hat das Kollegium gegenüber den Themen Inklusion und Bildungsstandards? Wie kann ich Spannungsverhältnisse zwischen Kollegen, die sich für Inklusion positionieren, und Kollegen, die sich für Bildungsstandards positionieren, lösen? Was kann getan werden, um eine kollegiale Kooperation zu fördern?
  • Welche Einstellung habe ich persönlich gegenüber den Themengebieten Inklusion und Bildungsstandards?
  • Verfügt das Kollegium über ausreichend Kompetenzen, die helfen, Inklusion erfolgreich in den allgemeinen Schulunterricht zu adaptieren? Was kann getan werden, um Kompetenzen und Wissen bezüglich der Anwendung von Bezugsnormen bei der Leistungsbeurteilung aufzuarbeiten?

Durch die Maßgabe des Inklusionserfordernisses an den deutschen Schulen wird den Autorinnen zufolge ein Spannungsverhältnis in möglichen Orientierungen für Lehrkräfte bezüglich der gleichzeitig geltenden Standardorientierung (im Konzept der Bildungsstandards abgebildet) hervorgerufen, da, so  führen die Autorinnen aus, mit den Bildungsstandards vorrangig die Anwendung der kriterialen und sozialen Bezugsnorm impliziert wird, während der Inklusionsgedanke eher auf die individuelle Bezugsnorm abhebt. So müssen Lehrkräfte in ihrer bisherigen Orientierung entweder umdenken können oder aber sie wissen nicht, wie sie eine individuelle Bezugsnorm zu ihrer bisherigen kriterialen und sozialen Bezugsnorm problemlos addieren können.

Die Autorinnen nehmen Bezug zu bisherigen Forschungen, denen zufolge  beide Orientierungen, Bildungsstandards einerseits und Inklusion andererseits, nicht gegensätzlich sein müssen; sie können sich vielmehr ergänzen. Die Vertreter outputorientierter Qualitätssicherung vertreten die Meinung, dass die Diagnose, die aufgrund der Überprüfung, ob die Schülerschaft an Bildungsstandards heranreicht, Lernstände erfasst, um besser einen individuellen Förderplan erstellen zu können. Gegensätzlich dazu sagt die Sonder- und Inklusionspädagogik jedoch, dass Bildungsstandards nur überprüfen, in welchem Ausmaß die gesamte Schülerschaft an den vorgegebenen Standard heranreicht und schließen damit den Gedanken einer individuellen Förderung hin zu eigenen Interessen der Schülerschaft aus. Ob beide Bezugsnormen miteinander vereinbar sind, bleibt aus Sicht der Autorinnen weiterhin ein zu erkundendes Forschungsgebiet. Für ihre Untersuchung interessiert es  die Autorinnen , ob die Beschäftigung mit dem Konzept „Bildungsstandard“ bzw. mit dem Konzept „Inklusion“ in Abhängigkeit von der  Einstellung zu dem jeweiligen Konzept zu einer Anwendung unterschiedlicher Bezugsnormen führt, konkret bei der Leistungsbewertung von Schülerinnen und Schülern.

Dabei stellen die Autorinnen 4 Hypothesen auf: 1. Die Konfrontation mit Bildungsstandards führt bei positiven Einstellungen zur stärkeren Anwendung der kriterialen und sozialen Bezugsnorm sowie 2. bei negativer Einstellung zu den Bildungsstandards zu einer stärkeren Ausprägung der individuellen Bezugsnorm. 3. Die Beschäftigung mit dem Konzept der Inklusion führt bei positiver Einstellung zu einer stärkeren Anwendung der individuellen Bezugsnorm und bei 4. negativer Einstellung zur Inklusion zu einer schwächeren Ausprägung der individuellen Bezugsnorm.

Theoretisch wird die Studie zudem noch mit Verweis auf sozialpsychologische Forschung fundiert, wonach Verhalten als ein Ergebnis der Interaktion von Person und Situation aufzufassen ist, d.h. die Bewertung einer Situation in Abhängigkeit von Personenmerkmalen differieren kann. Daraus folgern die Autorinnen, dass Situationen, die entweder Bildungsstandards oder Inklusion als Konzepte betonen, ein je nach Einstellung zu diesen Konzepten entsprechendes Beurteilungsverhalten evozieren.

Der Studie liegt ein experimentelles Design zugrunde. Einbezogen wurden 57 Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst in Berlin, die zufällig entweder der Untersuchungsbedingung „Inklusion“ oder der  Bedingung „Bildungsstandards“ zugewiesen wurden.

Die Studie ist im Rahmen eines Seminars erhoben worden. Die Lehrkräfte konnten freiwillig an einer schriftlichen Befragung zum Thema „Neue Herausforderungen im Lehrerberuf“ teilnehmen, in welcher das Experiment eingebunden wurde. Die Einstellung der Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst gegenüber Inklusion wurde mittels Fragebogen erfasst. Dieser bezog seine Informationen in Bezug auf Inklusion über eine Subskala „Core Perspectives“ der deutschen Version des „MyThinkingAboutInclusion“ (MTAI). Als Beispielitem geben die Autorinnen an, dass die Einstellung über Items wie „Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf haben das Recht, im selben Klassenzimmer wie alle anderen unterrichtet zu werden“ erfasst wurde . Für die Erfassung der Einstellung zu den Bildungsstandards wurden drei Fragen der Skala „Einstellung zu Bildungsstandards im Allgemeinen“ ausgewählt, die beispielsweise das Item „Bildungsstandards geben Klarheit, worauf es in der Schule letztlich ankommt“ beinhalten.

Darauf folgte die Austeilung zweier Texte, die je nach Untersuchungsgruppe entweder Informationen über Bildungsstandards oder Inklusion enthielten. Der Text zum Thema Bildungsstandards enthielt Informationen zu ihren Zielen , zu VERA und zum kompetenz- und ergebnisorientierten Unterricht. Der Text zum Thema Inklusion enthielt Informationen zu den Zielen inklusiver Pädagogik, zu individueller Förderung und zum individualisierten Unterricht. Um sicherzustellen, dass sich die Versuchspersonen mit ihren Texten auseinandergesetzt haben, wurden sie gebeten, den zentralen Inhalt dieser wiederzugeben.

Daran anschließend wurden die Lehrkräfte gebeten, neun fiktive Schülerinnen und Schüler bei ihren zurückgelegten Tests zu beurteilen (hierbei handelt es sich um die so genannte “Kleine Beurteilungsaufgabe“ nach Rheinberg (1980)). Drei dieser fiktiven Schülerinnen und Schüler haben im letzten Test 25 Punkte erzielt, drei 50 Punkte und drei 75 Punkte. Die drei Schülerinnen und Schüler, die jeweils den gleichen Punktestand erzielten, haben sich im Vergleich zum Test davor jeweils verbessert, verschlechtert oder zeigten die gleiche Leistung. Die Lehrkräfte wurden vor diesem fiktiven Hintergrund gebeten, die Leistungsentwicklung beziehungsweise die aktuelle Leistung auf einer Skala zwischen – 5 und + 5 zu bewerten. Die Autorinnen führen aus, dass eine Bewertung, die sich stark nach der individuellen Bezugsnorm richtet, daran erkannt wird, dass alle Schülerinnen und Schüler unabhängig voneinander positiv bewertet werden, wenn sie eine Verbesserung im Vergleich zu ihren vorigen Tests gezeigt haben. Eine an der sozialen Bezugsnorm ausgerichtete Bewertung kann daran erkannt werden, dass die Lehrkraft die Leistung im Vergleich zu den Leistungen der anderen Schülerinnen und Schüler bewertet. Eine Bewertung orientiert an der kriterialen Bezugsnorm beachtet Rheinberg in seinem Modell nicht, weswegen die Autorinnen für ihre Studie eine Modifikation vornahmen. Es wurde der kriteriale Maßstab hervorgehoben, indem erwähnt wurde, dass die erreichte Punktzahl des Schülers oder der Schülerin ebenfalls das erreichte Maß eines von den Autorinnen festgelegten, jedoch nicht näher erläuterten Kriteriums widerspiegelt. Demnach bedeute das Erreichen von 75 Punkten, dass 75 % des Kriteriums erreicht worden ist. Zudem wurde erwähnt, dass in dem fiktiven Test minimal 0 und maximal 100 Punkte erreicht werden könnten, weshalb gemäß den Autorinnen eine kriteriale Bewertung daran erkannt werden kann, dass keiner der Schülerinnen und Schüler mit – 5 oder + 5 bewertet werden würde, da niemand die maximale oder minimale Punktzahl erreicht hat. Für die Auswertung der Daten sind multiple Regressionsanalysen berechnet worden.

Die Autorinnen legen zunächst die deskriptiven Befunde dar: Die kriteriale Bezugsnorm wurde lediglich in einem Fall von den Probanden angewandt, so dass die diesbezüglichen Teilhypothesen nicht geprüft werden konnten. Signifikante Unterschiede zwischen den Ausprägungen der angewandten individuellen bzw. sozialen Bezugsnorm in den Untersuchungsgruppen „Inklusion“ vs. „Bildungsstandards“ bestanden nicht. Es zeigten sich auch keine signifikanten Unterschiede zwischen den Einstellungen zu Inklusion in den beiden Untersuchungsgruppen und auch nicht in den Einstellungen zu den Bildungsstandards in den beiden Untersuchungsgruppen. 

Hinsichtlich der Effekte der Konfrontation mit den Bildungsstandards bzw. dem Konzept der Inklusion auf die Bezugsnormorientierung in der fiktiven Leistungsbewertung zeigt sich in Abhängigkeit von der jeweiligen Einstellung Folgendes: Je nachdem, wie die Testpersonen gegenüber Bildungsstandards eingestellt sind, hat die Konfrontation mit diesem Konzept einen Einfluss auf die Bezugsnormorientierung. Eine negative Einstellung gegenüber Bildungsstandards führt bei einer Konfrontation mit diesen durch den Informationstext dazu, dass bei der Bewertungsaufgabe der fiktiven Schülerinnen und Schüler stärker auf die individuelle und weniger auf die soziale Bezugsnorm zurückgegriffen wird. Bei einer positiven Einstellung gegenüber Bildungsstandards wurden die fiktiven Schülerinnen und Schüler nach der Konfrontation mit dem Informationstext über Bildungsstandards stärker nach einer sozialen Bezugsnormorientierung bewertet. Insgesamt zeigt sich erwartungsgemäß eine signifikante Interaktion zwischen der Einstellung zu den Bildungsstandards und der Konfrontation mit dem Konzept der Bildungsstandards. Die diesbezüglich aufgestellten Hypothesen 1 und 2 werden aus Sicht der Autorinnen damit „tendenziell“ bestätigt.

Die Konfrontation mit dem Informationstext über Inklusion sowie auch die Einstellung zur Inklusion beeinflusst die Bezugsnormorientierung bei der Bewertung nicht. Dieses Ergebnis ist ein erwartungswidriger Befund im Hinblick auf die aufgestellten Hypothesen 3 und 4.

Zum Hintergrund:

Die Studie greift ein Thema auf, das aufgrund der herausfordernden Umsetzung von Inklusion in den deutschen Schulen hohe Aktualität besitzt. Der Forschungsgegenstand, die Anwendung der drei unterschiedlichen Bezugsnormorientierungen in der Bewertung der Leistung von Schülerinnen und Schüler bezieht sich zudem auf einen zentralen Aspekt im alltäglichen Handeln von Lehrerinnen und Lehrern. Hinsichtlich eines Spannungsverhältnisses zwischen den Konzepten der Inklusion und der Bildungsstandards heben die Autorinnen auf relevante Literatur ab, die die mit den beiden Konzepten einhergehenden unterschiedlichen Anforderungen an Lehrerinnen und Lehrer sichtbar macht. Darin ist zudem grundsätzlich ein zentraler Wert der Untersuchung zu sehen: mit der empirischen Behandlung dieses Spannungsverhältnisses wird  ein Beitrag für einen stärker auch bildungspraktisch und bildungsadministrativ zu führenden expliziten Diskurs mit den damit einhergehenden Herausforderungen an die Schulpraxis geboten. Dass das Thema auch wissenschaftlich anscheinend noch gering erforscht ist, zeigen die Autorinnen mit Rekurs auf den  – vor allem international vorhandenen – Forschungsstand auf.

Zum Design:

Die Studie fragt danach, welchen Einfluss die Konfrontation mit den Konzepten „Standardisierung“ und „Individualisierung“ in Abhängigkeit von der Einstellung zu diesen jeweils auf die Bezugsnormorientierung in der Leistungsbewertung von Schülerinnen und Schülern hat. Die aus dieser Thematik abgeleiteten Hypothesen passen zum Forschungsvorhaben und sind präzise formuliert. Der Forschungsablauf im gewählten experimentellen Design und die instrumentelle Grundlage für die Auswertung der Bewertungsmuster der Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst sind ausführlich und verständlich erklärt. Ebenso sind die Befunde transparent und nachvollziehbar dargelegt. Lediglich eine genauere Beschreibung, nach welchem Muster die Versuchspersonen einer eher positiven oder eher negativen Einstellung gegenüber Inklusion und Bildungsstandards zugeordnet werden, fehlt. Es wird ausreichend erklärt, wie sich der Fragebogen zur Überprüfung der Einstellung aufbaut, jedoch nicht, nach welchem Verfahren sich eine positive oder negative Einstellung ergibt. Die kriteriale Bezugsnorm bei der Auswertung auszulassen ist eine angemessene Entscheidung, da das vorhandene Material nicht ausreichend gewesen ist, um allgemein gültige Aussagen treffen zu können.

Zu den Ergebnissen

Die Hypothesen werden durch das angemessene Forschungsdesign und die dadurch gewonnenen Ergebnisse entsprechend beantwortet. Zwei der Hypothesen haben sich bewährt, die beiden anderen sind im Rahmen dieser Studie widerlegt worden. Es kann anhand dieser angenommen werden, dass eine Konfrontation mit der Thematik „Bildungsstandards“ einen Einfluss auf die Bezugsnormorientierung hat, eine Konfrontation mit der Thematik „Inklusion“ jedoch nicht. Die Autorinnen führen mittels Literaturverweise als einen Erklärungsansatz an, dass der Ansatz der Inklusion als politische Reform im Grundsatz weniger Positionierungen pro und contra auslöst als dies bei dem Konzept der Bildungsstandards der Fall sei, die insgesamt kritischer bewertet würden. Die Ergebnisse der Studie schließen an andere, zeitlich frühere Studien an, die besagen, dass ein Zusammenhang zwischen Einstellungsprofilen von Lehrkräften und ihren Reaktionen auf Reformen wie Bildungsstandards besteht. Die vorliegenden Ergebnisse alleine sind nicht aussagekräftig genug, jedoch können sie in Kombination mit ähnlichen Studien an Aussagekraft gewinnen und einen zusätzlichen Blick in die Thematik gewährleisten. Ihr praktischer Wert spiegelt sich darin, dass auf das Spannungsverhältnis von Inklusion und Bildungsstandards aufmerksam gemacht wird, zur Reflexion darüber und über die Anwendung der Bezugsnormorientierung in Abhängigkeit von Einstellung und situativem Kontext angeregt wird. Offen bleibt letztlich, ob Inklusion und Bildungsstandards wirklich konträr gesehen werden müssen, oder ob eine positive Verbindung beider Themenfelder möglich ist – hierzu verweisen die Autorinnen auf entsprechende Literatur, die sich entsprechend positioniert. Zudem ist zu hinterfragen, ob eine starke Positionierung in einem Themenfeld die Möglichkeit ausschließt, neuen Themenfeldern offen zu begegnen und diese als positiv sehen  und eventuell adaptieren zu können. Wird Inklusion in ihrem Kerngedanken wirklich verstanden, wenn eine Konfrontation mit Bildungsstandards eine starke Positionierung für das Bewertungskonzept des Bildungsstandards auslöst? Ist der Wertgedanke der Inklusion ebenfalls verstanden worden, wenn eine Konfrontation mit Inklusion keine Positionierung für das Bewertungskonzept der Inklusion auslöst? Keine Positionierung zu zeigen, zeigt häufig auch, dass nicht genügend Wissen über eine Thematik vorhanden ist. Dies impliziert eine entsprechende Anforderung an die Lehrerbildung in allen Phasen.

Kritisch anzumerken bleibt noch die theoretische Modellierung des Kontextes  beschränkt allein auf ein Konstrukt (Inklusion oder Bildungsstandards). Dies wird dem experimentellen, „klinischen“ Charakter der Untersuchung gerecht, lässt aber außen vor, dass der Kontext von Bewertungssituationen in der Praxis von Lehrerinnen und Lehrern durch weit mehr Faktoren geprägt wird, die ebenfalls Auswirkung auf die Bezugsnormorientierung haben können. Letztlich machen die Autorinnen daher auch zu Recht auf die Limitation ihrer Untersuchung aufmerksam, die in der experimentellen Rahmung einerseits und der Auswahl der Versuchspersonen (Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst) andererseits liegen. Es kann daher nur bekräftigt werden, dass zukünftige Forschungen mit ähnlicher Fragestellung auch die tatsächliche Schulpraxis, auch die berufserfahrenerer Lehrkräfte, in den Blick nehmen. 

Diese Rezension wurde erstellt von:
Christin Albert, Bachelor of Arts (B.A.), Studentin der Erziehungswissenschaften an der Technische Universität Dortmund.

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