Fragestellungen der Studie:

  • Gibt es einen Zusammenhang zwischen sportlichen Aktivitäten und Bildungserfolg (z. B. Noten, Abschlüsse)?

Rezension zur Studie

Dadaczynski, K. & Schiemann, S. (2015). Welchen Einfluss haben körperliche Aktivität und Fitness im Kindes- und Jugendalter auf Bildungsoutcomes? Eine systematische Übersicht von Längsschnittstudien. Sportwissenschaft, 45(4), 190–199.

Regelmäßige körperlich-sportliche Aktivität und Fitness begünstigen die Gesundheit und das Wohlbefinden über die ganze Lebensspanne hinweg. Zunehmend werden potenziell positive Effekte auf kurz- und langfristige Bildungsoutcomes (z. B. Noten, Abschlüsse) thematisiert. Bisherige Literaturübersichten ermöglichen jedoch selten Rückschlüsse auf die Wirkrichtung und vernachlässigen die Betrachtung potentieller Einflussfaktoren.

Dadaczynski und Schiemann untersuchen in einer systematischen Detailanalyse von 14 Längsschnittstudien den Einfluss körperlich-sportlicher Aktivität und Fitness auf verschiedene Bildungsoutcomes. Die berücksichtigten Studien weisen ein breites Spektrum methodischer Qualität auf (gering bis hoch).

Hinweise auf einen positiven Einfluss von körperlicher Aktivität und Fitness auf Bildungsparameter finden sich in 11 von 14 Längsschnittstudien. Dieser Befund unterstützt die Annahme, dass körperliche Aktivität und Fitness unter bestimmten Bedingungen möglicherweise einen positiven Einfluss auf Bildungsoutcomes haben können.

Die vielfältigen methodischen Einschränkungen der berücksichtigten Untersuchungen schließen jedoch alternative Erklärungen nicht überzeugend aus, beispielsweise dass bildungsrelevante familiäre oder schulische Bedingungen, die mit einer höheren körperlichen Aktivität und Fitness in Zusammenhang stehen, die tendenziell besseren Bildungsoutcomes verursachen.

Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.

Reflexionsfragen für Lehrkräfte:

  • Welche Einstellung habe ich gegenüber einer bewegungsorientierten Lernförderung in meinem Fachunterricht?
  • Welche Maßnahmen ergreife ich, um Bewegung, Spiel und Sport bei fachlichen Lehr-Lernprozessen systematischer zu berücksichtigen?
  • Welche Maßnahmen ergreife ich, um ausreichend methodisch-didaktisches Wissen zur Entfaltung der lernförderlichen Wirkung von Bewegung, Spiel und Sport in meinem Unterricht erwerben zu können?
  • Welche Konzepte einer ‚bewegten‘ Schule bzw. eines ‚bewegten‘ Unterrichts lassen sich im Schulalltag mit meinen Lerngruppen

Reflexionsfragen für Schulleitungen:

  • Wie bin ich einer bewegungsorientierten Gestaltung von Erziehungs- und Bildungssettings an meinem Schulstandort gegenüber eingestellt?
  • Welches Wissen besitze ich über die lernförderliche Wirkung von Bewegung, Spiel und Sport im Fachunterricht?
  • Inwiefern stelle ich an unserer Schule Ressourcen zur Verfügung, um meinem Kollegium einen Austausch und/oder eine Weiterbildung zur Nutzung von Strategien des ‚bewegten‘ Lernens zu ermöglichen?
  • Welchen Stellenwert hat Bewegung, Spiel und Sport im Schulprogramm, nicht nur mit Blick auf den Fachunterricht, sondern auch hinsichtlich der Gesundheitsförderung der Schülerinnen und Schüler sowie meines Kollegiums?

In der Einleitung definieren die beiden Autoren zunächst die beiden Begriffe körperliche Aktivität (kA) und körperliche Fitness (kF): kA meint jede durch die Muskulatur erzeugte körperliche Arbeit, die zu einer Erhöhung des Energieumsatzes führt; kF bezieht sich auf bestimmte Merkmale (z. B. die Leistungsfähigkeit des Herz-Kreislauf-Systems), die mit der Fähigkeit zur Ausübung körperlicher und sportlicher Aktivitäten verbunden sind.

Weiterhin stellen die Autoren heraus, dass zahlreiche Studien positive Auswirkungen für die physische und psychische Gesundheit im weiteren Lebensverlauf durch regelmäßige kA und eine gute kF im Kindes- und Jugendalter belegen, sodass die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt, täglich mindestens 60 Minuten lang einer moderaten bis intensiven kA nachzugehen.

Zudem betonen sie, dass in mehreren Überblicksbeiträgen der Einfluss von kA und kF auf die Leistung in spezifischen kognitiven Testverfahren untersucht und dabei positive Wirkungen im Blick auf die kognitive Leistungsfähigkeit und auf bildungsbezogene Parameter (z. B. Schulnoten, Schulabschlüsse) herausgestellt wurden.

Anschließend relativieren Dadaczynski und Schiemann jedoch die Aussagekraft der bisherigen Übersichtsbeiträge, in denen die Wirkung von körperlicher Aktivität und/oder Fitness auf kognitive Leistungen untersucht wurde. Als Gründe hierfür nennen sie das Alter und die Qualität der berücksichtigten Studien sowie bislang eher außer Acht gelassene mögliche Einflussfaktoren (z. B. der sozioökonomische Hintergrund). Hieraus leiten die Autoren die Notwendigkeit weiterer Übersichtsbeiträge ab und formulieren folgende Fragestellungen (S. 191):

  •  „Welche Studienqualität weisen die Längsschnittstudien zum Einfluss von körperlicher Aktivität und Fitness auf Bildungsparameter auf?
  • Lässt sich ein Einflusspotential von körperlicher Aktivität und Fitness auf Bildungsparameter in Längsschnittstudien empirisch und statistisch signifikant absichern?
  • Inwiefern ist der Einfluss körperlicher Aktivität und Fitness auf Bildungsparameter abhängig von soziodemografischen und weiteren Drittvariablen?“

Bevor sie ihre Vorgehensweise bei der Erstellung der Literaturübersicht beschreiben, stellen sie zudem die Relevanz der Abschätzung des Einflusses von kA und kF auf verschiedene Bildungsparameter in Verbindung mit dadurch zu begründenden Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Prävention im Kontext von Bildungs- und Erziehungssettings und im Zusammenhang mit Fragen der Legitimierung des Schulsports bzw. Sportunterrichts heraus.

Datenquellen und Operationalisierung
Zur Beantwortung der o. g. Fragestellungen führten die Autoren eine systematische Literaturanalyse in mehreren Datenbanken (z. B. PubMed, Web of Science, ERIC) mit verschiedenen Schlüsselbegriffen für die unabhängigen Variablen kA und kF und die abhängige Variable Bildung durch. Letztere unterteilten sie in kurz- und mittelfristige (z. B. Schulnoten) sowie langfristige Indikatoren (z. B. drop out).

Einschlusskriterien
In ihrer Literaturanalyse berücksichtigten Dadaczynski und Schiemann ausschließlich publizierte epidemiologische Längsschnittstudien, bei denen die Probanden im schulpflichtigen Alter waren und die zwischen Januar 2000 und Juni 2014 in deutscher oder englischer Sprache veröffentlicht wurden.

Bewertung der methodischen Qualität
Zur Bewertung der methodischen Qualität der Studien analysierten sie im Rekurs auf die von Singh et al. (2011) entwickelte Checkliste die Teilnahmerate, den Studienausfall, die Datenerfassung und die Datenanalyse. In einem standardisierten und unabhängigen Bewertungsprozess erfolgte eine Einschätzung nach diesen Indikatoren durch die beiden Autoren der Studie. Hierzu wurden die prozentuale Übereinstimmung und der zufallskorrigierte Cohens-Kappa-Koeffizient berechnet (schwach: 0,0 bis 0,2, ausreichend: ≥ 0,21 bis <0,4, moderat: ≥0,41 bis <0,6, substanziell: ≥0,61 bis <0,8, nahezu perfekt: ≥0,81 bis 1,0).

Die methodische Qualität der Studien umfasst eine erhebliche Spannweite (gering bis hoch). Die beiden Autoren attestieren nur zwei Studien eine hohe methodische Qualität. Besonders die Reliabilität und Validität der verwendeten Messinstrumente ist in den meisten Studien mangelhaft. Der Einfluss von kA auf Bildungsoutcomes wird überwiegend bestätigt, wobei sich übermäßig in sportliche Aktivitäten investierte Zeit möglicherweise negativ auf die Bewältigung schulischer Aufgaben auswirken kann. Der Einfluss von kF auf Bildungsoutcomes lässt sich ebenfalls bestätigen. Mädchen profitieren besonders durch kA und kF und der sozioökonomische Status erweist sich als bedeutsamer Einflussfaktor. Unklar bleibt jedoch, inwiefern eher die allgemeine Körperfitness oder eine bereichsspezifische Fitness (z. B.die kardiovaskuläre Fitness) hierfür besonders relevant ist. Die meisten Studien fokussieren auf kurzfristige Bildungsoutcomes.

Hintergrund
Die Studie von Dadaczynski und Schiemann greift vor dem Hintergrund der Diskussion über den Einfluss von kA und kF auf verschiedene Bildungsparameter (z. B. Schulnoten, Abschlüsse) ein für die Administration und für die Schule relevantes Forschungsdesiderat auf, wenngleich dieses bislang eher in sportwissenschaftlich geprägten Disziplinen aufgegriffen wurde und  nur bedingt außerhalb dieses Forschungsbereichs Aufmerksamkeit erfahren hat. Mit Hilfe einer systematischen Literaturanalyse untersuchen die beiden Autoren einerseits die methodische Qualität und andererseits die Ergebnisse von Längsschnittstudien, die in deutscher oder englischer Sprache veröffentlicht wurden.

Die methodische Begründung für die vorgenommene Literaturübersicht ergibt sich aus Sicht der Autoren aus der bislang nur bedingt aufschlussreichen Studienlage zu den Wirkungen von kA und kF auf verschiedene Bildungsparameter. Die bisherigen Überblicksbeiträge hätten entweder a) Studien mit querschnittlichem Studiendesign berücksichtigt, wodurch die Frage nach der Kausalität ungeklärt bleibe, oder b) Befunde von Interventionsstudien zusammengetragen, sodass die Befunde nicht verallgemeinerbar seien. Außerdem kritisieren Dadaczynski und Schiemann, dass in diesen Übersichtsbeiträgen die Studienqualität bislang nicht betrachtet wurde. Die Argumentationsweise und Hinführung zur eigenen Literaturanalyse erscheinen insofern aus Sicht des Rezensenten gelungen.

Zur Herausstellung der inhaltlichen Relevanz dieser noch nicht ausreichend erforschten Evidenz beziehen sich Dadaczynski und Schiemann auf Aspekte der Gesundheitsförderung und Prävention in Bildungs- und Erziehungssettings sowie auf die Legitimierung des Schulsports. Die beiden Autoren erwähnen diese Aspekte jedoch nur, ohne sie weiterführend zu erläutern. Dies wäre wünschenswert gewesen, um die inhaltliche Relevanz des Beitrags in diesen beiden Handlungsfeldern weiter zu stärken.

Design
Die Vorgehensweise bei der Planung, Durchführung und Auswertung der Literatursichtung wird ausführlich und nachvollziehbar dargestellt. Jedoch wäre es aus Sicht des Rezensenten wünschenswert gewesen, wenn in Anlehnung an Ausführungen aus dem PRIMSA-Statement (Liberati et al., 2009) zur Durchführung systematischer Literaturreviews und Meta-Analysen zumindest für eine Datenbank die genaue Suchstrategie zum besseren Nachvollzug (und zu Replikationszwecken) vollständig vorgestellt worden wäre. Die beiden Autoren der Studie verweisen lediglich beispielhaft auf die verwendeten Schlüsselbegriffe. Die ausgewiesenen Recherche- und Selektionskriterien sind nachvollziehbar. Die standardisierte Vorgehensweise bei der Einschätzung der methodischen Qualität der Studien wird als gelungen eingeschätzt.

Ergebnisse
Die Zielstellung der Untersuchung wird erreicht. Die vorgenommenen Schlussfolgerungen erscheinen plausibel: die Ergebnisse dieser Literaturanalyse bestätigen vorangegangene Befunde. Die beiden Autoren diskutieren vor diesem Hintergrund, ob der Effekt genuin auf kA und kF zurückzuführen ist, da in der Literatur auch diskutiert wird, ob vor allem das Sporttreiben mit anderen (z. B. bei Mannschaftssportarten) sozialen Aufstieg ermöglicht und den Erwerb bildungsrelevanter Ressourcen unterstützt. Die beiden Autoren bevorzugen jedoch die Begründung dieser Evidenz durch neurophysiologische Erklärungsmechanismen, die der kA und kF zugrunde liegen: durch kA kommt es zu einer Steigerung der Durchblutung des Gehirns und zu einer elektrophysiologischen Optimierung der Informationsveränderung.

Der besondere bildungsrelevante Vorteil von kA und kF für das weibliche Geschlecht wird neben dem Verweis auf die zugrunde liegenden neurophysiologischen Wirkmechanismen unter Bezugnahme auf psychologische Erklärungen herausgestellt: So nehmen Dadaczynski und Schiemann an, dass kA und kF das besonders bei Mädchen im Vergleich zu Jungen geringere Selbstwertgefühl verbessern sowie Angst, Depression und Stress reduzieren würde; kA und kF hätten demnach eine größere Bedeutung für die psychische Gesundheit von Mädchen, was sich wiederum positiv auf die Bildungsparameter auswirken würde.

Die beiden Autoren diskutieren zudem, inwiefern kA nur bis zu einem bestimmten Niveau positive Bildungseffekte zeigen würde, da sich ein Übermaß an kA nachteilig auf die Bewältigung schulischer Anforderungen auswirken könnte. Diese Annahme gilt es aus ihrer Sicht in zukünftigen Studien zu prüfen.

Mit Verweis auf die methodische Qualität der Studien wird besonders die fehlende Reliabilität und Validität der verwendeten Messinstrumente kritisiert, sodass in zukünftigen Studien diesem Aspekt mehr Beachtung entgegengebracht werden sollte. Gleichwohl reflektieren die beiden Autoren im Blick auf ihre eigene Vorgehensweise zurecht kritisch, dass nur durch fehlende Angaben zu diesen und weiteren methodischen Aspekten in den konsultierten Studien nicht automatisch eine Verzerrung vorliegen muss. Deswegen empfehlen sie für zukünftige Studien folgerichtig, immer Angaben zur psychometrischen Qualität der verwendeten Instrumente zu machen, um die Einschätzung der Qualität sicherer vornehmen zu können.

Die Ausführungen zu den Implikationen der Literaturanalyse aus gesundheits- und bildungsbezogener Perspektive verdeutlichen, wie wichtig kA und kF in Bildungs- und Erziehungssettings sind. Sie stellen heraus, dass diese Ressource in Bildungsprozessen Teil des Kernauftrags der Schule sein sollte. Zugleich stellen sie zu Recht relativierend heraus, dass angesichts des Großteils von Studien aus Nordamerika bislang noch nicht geklärt ist, inwiefern diese auch für den deutschen Sprachraum Gültigkeit besitzen.

Als eine weitere Limitation ihrer Studie benennen die beiden Autoren aus Sicht des Rezensenten nachvollziehbar die Heterogenität der verwendeten Messinstrumente (u. a. Selbstberichte, objektive Testverfahren), mit denen kA und kF erfasst wurden. Sicherlich erschwert dies die Vergleichbarkeit der Einzelbefunde. Zudem wäre es wünschenswert, in zukünftigen Studien meta-analytisch Aussagen über die Effektstärken zu treffen. Nur so ließe sich die praktische Bedeutsamkeit der gefundenen Effekte besser abschätzen. Dies stellen die beiden Autoren abschließend auch selbstkritisch fest.

Aus Sicht des Rezensenten liegt jedoch die Hauptproblematik der Untersuchung darin, dass für die Beantwortung der Fragestellung Interventionsstudien systematisch ausgeschlossen wurden und bei den berücksichtigten Längsschnittstudien mögliche Drittvariablen teilweise nicht überzeugend kontrolliert wurden bzw. sich deutliche Hinweise auf die Bedeutsamkeit von Kontrollvariablen (z. B. sozioökonomischer Status) ergeben haben, was einen „Einfluss“ von körperlicher Aktivität/Fitness auf Bildungsoutcomes ja gerade in Frage stellt. In den meisten Untersuchungen zeigt sich ein statistischer Zusammenhang; einen klaren Beleg für eine Kausalität gibt es aus Sicht des Rezensenten nicht, zumal die angeführten Thesen, warum kA und kF positive Wirkungen haben (physiologische Prozesse, psychische Gesundheit), in den Studien gar nicht geprüft wurden. Daneben ist der Verzicht auf die Berücksichtigung von Effektstärken unüblich und schmälert die Aussagekraft.

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Diese Rezension wurde erstellt von:
Dr. Mirko Krüger, PD, Lehrer an der Georg-Müller-Gesamtschule in Wetter (Ruhr) und Lehrbeauftragter an der Fakultät für Bildungswissenschaften, Universität Duisburg-Essen. Arbeitsschwerpunkte: Schul- und Schulsportentwicklung, Sprachbildung im Sportunterricht, Professionalisierung von Lehrkräften

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