Fragestellungen der Studie:

  • Inwiefern spielt die bildungspolitische Forderung nach Abbau von Bildungsungleichheit im pädagogischen Handeln im Ganztag eine Rolle?
  • Welche handlungsleitenden Orientierungsmuster für ihr pädagogisches Handeln haben die Akteure an Ganztagsschulen?

Rezension zur Studie

Buchna, J., Coelen, T., Dollinger, B. & Rother, P. (2017). Abbau von Bildungsbenachteiligung als Mythos? Orientierungen pädagogischer Akteure in (Ganztags-)Grundschulen. Zeitschrift für Pädagogik, 63(4), 416–436.FIS Bildung

Besonders zwei (bildungs-)politische Motive prägen den Diskurs zum Ganztagsausbau seit der Jahrtausendwende. Erstens sollen Ganztagsschulen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern. Zweitens wird an Ganztagsschulen der Auftrag adressiert, Bildungsbenachteiligungen abzubauen. Der zweite Aspekt ist auch als Reaktion auf den von PISA im Jahr 2000 nachgewiesenen Fakt zu verstehen, dass Schülerinnen und Schüler aus Familien mit geringerem sozio-ökonomischen Einkommen im deutschen Schulsystem benachteiligt werden. Hierzu rückt vor allem der Primarbereich in den Forschungsfokus, da eine frühzeitige Behebung von Leistungsdefiziten die Bildungsprozesse in den weiterführenden Schulen begünstigt. Vor diesem Hintergrund fragen Buchna et al., ob das bildungspolitische Ziel des Abbaus von Bildungsbenachteiligungen für pädagogische Akteure im Primarbereich als Element ihres handlungsleitenden Orientierungsrahmen fungiere und falls ja, wie sich dies in der Praxis auswirkt.

Die Beantwortung dieser Frage erfolgt qualitativ. Hierzu nutzt das Autorenquartett Interviews und Gruppendiskussionen und rekonstruiert die Orientierungsmuster mithilfe der Dokumentarischen Methode. Die befragten pädagogischen Akteure (Lehrkräfte und weiteres pädagogisch tätiges Personal sowie Schulleitungen) arbeiten an acht Grundschulen aus drei verschiedenen Bundesländern. Diese Institutionen teilen sich gleichmäßig auf vier unterschiedliche ganztagsbezogene Organisationsformen nach Unterscheidung der Autorinnen und Autoren folgendermaßen auf: Je Organisationsform beschult eine Grundschule eine sozial „privilegierte“ Schülerschaft und eine Grundschule eine sozial „belastete“ Schülerschaft.

Unabhängig vom sozio-ökonomischen Hintergrund der Schülerschaft und der schulischen Organisationsform spielt für die befragten pädagogischen Akteure der Themenkomplex „Bildungsbenachteiligung“ als Element eines handlungsleitenden Orientierungsrahmens keine bzw. nur eine nachrangige Rolle, einige Akteure lehnen eine solche Relevanz sogar explizit ab. In drei der vier untersuchten Grundschul-Organisationsformen zeigt sich zudem, dass pädagogische Akteure identischer ganztagsbezogener Form auch die gleichen Orientierungsmuster aufweisen. Dabei ist es unerheblich, ob die Schülerschaft als sozial „belastet“ oder „privilegiert“ gilt. Einzig die pädagogischen Akteure der beiden rhythmisierten Ganztagsgrundschulen fallen aus diesem „Muster“. Thematisch werden im Ergebnis die Themenkomplexe Erhalt der Halbtagsschule, Wandel zur Ganztagsschule, Durchtaktung des Tages, Elterliche Defizite oder Bildungspolitische Anforderungen als übergeordnete „Muster“ für die Akteure identifiziert.

Die Verwendung der Anführungszeichen beim Begriff „Muster“ zielt bereits auf die zentrale Einschätzung zur Aussagekraft. Eingedenk der interessanten Fragestellung der Untersuchung ist zu bedauern, dass mit acht Grundschulen verteilt auf vier Organisationsformen und gesplittet in auf die Schülerschaft bezogenen je eine sozial „privilegierte“ bzw. „belastete“ Schule die Aussagekraft bezüglich der identifizierten allein auf die Fallschulen zu begrenzen ist. Hinsichtlich der Leitfrage stellt das Ergebnis jedoch gerade für bildungspolitische Adressaten wichtige Hinweise bereit: Der bildungspolitische Wille, Bildungsbenachteiligungen abzubauen, hat auf Ebene des handlungsleitenden Orientierungsrahmens der pädagogischen Akteure in Grundschulen keine bzw. nur eine randständige Relevanz. Kurzum: Was bildungspolitisch Wille ist, bleibt in der pädagogischen Grundschulpraxis Mythos. Damit verdeutlicht die Fallstudie nachdrücklich den „Gap“ zwischen bildungspolitischer Programmatik und tatsächlicher Realisierung in der Praxis.

Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.

Reflexionsfragen für Lehrkräfte:

  • Was sind meine Orientierungsmuster in meinem pädagogischen Handeln im Ganztag?
  • Welche übergeordnete Ziele verbinde ich mit dem Ganztag?
  • Spielt die bildungspolitische Zielsetzung, mithilfe des Ganztags auch zum Abbau von Bildunsgungleichheiten beizutragen, in meinem pädagogischen Handeln eine Rolle?
  • Bestehen tragfähige Zusammenhänge zwischen den zentralen Inhalten meines handlungsleitenden Orientierungsrahmens und (basalen) Elementen des Schulprofils meiner Schule?
  • Welche zentralen Inhalte des handlungsleitenden Orientierungsrahmens in Bezug auf den Ganztag bestimmen wie das pädagogische Handeln in meiner Fachschaft/ meiner Abteilung/ meinem Kollegium – und welche warum nicht?

Reflexionsfragen für Schulleitungen:

  • Welche Argumente für die Einführung/ die Verstetigung/ den Ausbau des Ganztags dominieren den handlungsleitenden Orientierungsrahmen in meinem Kollegium?
  • Inwiefern berücksichtigen Lehrkräfte und weiteres pädagogisches Personal die bildungspolitischen Zielsetzungen, die mit Ganztagsschulen verknüpft werden? 
  • Könnte die Durchführung eines pädagogischen Tages dem Kollegium zusätzliche Orientierung geben, indem ein explizit verbalisierter Common Sense hinsichtlich der Inhalte unseres handlungsleitenden Orientierungsrahmens  mit Blick auf den Ganztag erarbeitet wird?

 

Den rezensierten Artikel rahmt das DFG-Projekt „Bildungsbenachteiligung als Topos pädagogischer Akteure in Ganztagsschulen“ (Topos-Projekt). Ausgehend von der Frage nach den grundlegenden Orientierungsrahmen für das pädagogische Handeln in (Ganztags-)Schulen untersucht das Forscherteam, ob der Abbau von Bildungsbenachteiligung pädagogischen Akteuren als Orientierungsrahmen diene und falls ja, wie. Die Autorinnen und Autoren führen aus, dass das Topos-Projekt einzuordnen ist in Untersuchungen, die eine Skepsis gegenüber der bildungspolitischen Hoffnung nahelegen, dass Ganztagsschulen Bildungsbenachteiligungen mindern. Die Autoren betonen, dass vorliegende empirische Befunde den Abbau von Bildungsbenachteiligung durch Ganztagsschulen bestenfalls in geringem Umfang bestätigen, gleichwohl aber an Ganztagsschulen der adressierte bildungspolitische Auftrag bestehen bleibt, gleiche Bildungschancen für alle zu eröffnen. Anhand bereits vorliegender Studien verdeutlichen die Autorinnen und Autoren den Forschungsstand, welcher aufzeigt, dass der Abbau von Bildungsungleichheit wenig Relevanz für die Praxis besitzt. Da hier laut den Autorinnen und Autoren jedoch noch keine umfassende Forschung bezogen auf die Bedeutung solcher bildungspolitischen Setzungen für das pädagogische Handeln vorliegt, wird die Studie an einem Desiderat ansetzend verortet.

Buchna et al. fragen in ihrer Untersuchung, ob die bildungspolitische Forderung nach Reduktion von Bildungsbenachteiligung durch den Ganztag überhaupt im Handeln und Wirken von Lehrerinnen und Lehrern sowie weiterem pädagogisch tätigem Personal eine Rolle spiele. Im Falle einer positiven Beantwortung der Leitfrage formuliert das Autorenquartett die Anschlussfrage: Wie schlägt sich die Berücksichtigung des Abbaus von Bildungsbenachteiligung im organisationalen Rahmen nieder?

Theoretisch rahmen die Autorinnen und Autoren ihre Untersuchung unter Rückgriff auf den Neoinstitutionalismus, wonach bildungspolitische Programmatik etwa in institutionalisierte Strukturen überführt wird, von deren Arbeitsweisen jedoch entkoppelt sein kann.

Für die Beantwortung der Forschungsfragen wird sich auf den Primarbereich konzentriert. Dabei wurden aus dem Spektrum unterschiedlich organisierter Grundschulen vier Organisationskategorien hinsichtlich des Ganztags gebildet:

  • Halbtägige Grundschulen mit keinem oder wenigen erweiterten Bildungsangeboten
  • Halbtägige Grundschulen mit vielen erweiterten Bildungsangeboten
  • Additive Ganztagsgrundschulen, wobei „additiv“ auf eine Tagesstruktur referiert, bei der auf den vormittäglichen Fachunterricht Lern- und Freizeitphasen am Nachmittag folgen
  • Rhythmisierte Ganztagsgrundschulen, wobei „rhythmisiert“ auf eine Tagesstruktur referiert, bei der Fachunterricht, Lern- und Freizeitphasen über den Tag verteilt einander alternierend abwechseln

Für jede der vier Organisationskategorien wurden maximal-kontrastiv je eine Grundschule mit sozial „belasteter“ Schülerschaft und je eine Grundschule mit sozial „privilegierter“ Schülerschaft untersucht. Insgesamt flossen in die Studie Daten aus acht Grundschulen ein, die in Nordrhein-Westfalen, Hessen und Rheinland-Pfalz liegen. Die Daten stammen mehrheitlich aus dem Schuljahr 2013/14 und wurden bei Lehrkräften, Schulleitungen, Ganztagskoordination und weiterem pädagogisch tätigem Personal erhoben. Um der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes zu entsprechen, fanden mit Organisationsform, sozialer Lage und Akteursgruppe drei bedeutsame Vergleichsdimensionen Berücksichtigung.

Die Datenerhebung erfolgte mittels Interviews und Gruppendiskussionen. Für analytische Ermittlung der Orientierungsmuster wurde auf das rekonstruktive Verfahren der Dokumentarischen Methode zurückgegriffen. Diesem qualitativen Ansatz liegt die Annahme zugrunde, dass Akteure, wie etwa die Lehrkräfte einer Schule, verbindende Erfahrungen teilen, welche ihrerseits für das Handeln im Sinne eines handlungsleitenden institutionellen Orientierungsrahmens maßgeblich sind. In den Gruppendiskussionen wurde ein offener erzählgenerierender Impuls zum Schulalltag eingesetzt, der offenlegen sollte, welche Themen für die Akteure Relevanz besitzen und ob darunter die Reduktion von Bildungsbenachteiligung fällt. Erst im späteren Nachfrageteil wurde explizit nach dem bildungspolitischen Willen gefragt, Bildungschancen durch Ganztagsschulen zu erhöhen. Mitglieder von Schulleitung und Ganztagskoordination wurden gesondert interviewt, um statusbezogene Einflüsse auf die Diskussionen zu vermeiden.

Für die befragten pädagogischen Akteure aller Grundschul-Organisationsformen spielt der Themenkomplex „Bildungsbenachteiligung“ keine bzw. eine nachrangige Rolle. Abgesehen von den Kolleginnen und Kollegen der rhythmisierten Ganztagsschule räumen die übrigen befragten pädagogischen Akteure dem Ganztag geringe Chancen ein, Bildungsbenachteiligung abzubauen. Diese Einschätzung erfolgt allerdings erst, nachdem in den Interviews der Moderator explizit nach dem Abbau von Bildungsbenachteiligung durch Ganztagsschulen fragt.

Die beiden rhythmisierten Ganztagsschulen ausgenommen zeigt sich bei den untersuchten Grundschulen, dass die pädagogischen Akteure in Schulen mit derselben Organisationsform auch den gleichen übergeordneten Orientierungsrahmen aufweisen – unabhängig vom sozio-ökonomischen Hintergrund der Schülerschaft:

Halbtägige Grundschulen mit keinem oder wenigen erweiterten Bildungsangeboten haben als übergeordneten Orientierungsrahmen den Erhalt der Halbtagsschule.

Halbtägige Grundschulen mit vielen erweiterten Bildungsangeboten artikulieren als übergeordnetes Orientierungsproblem den Wandel zur Ganztagsschule.

An den zwei additiven Ganztagsgrundschulen wurde als übergeordneter Orientierungsrahmen die Durchtaktung des Tages ermittelt.

Die rhythmisierte Ganztagsgrundschule mit sozial belasteter Schülerschaft weist elterliche Defizite als übergeordneten Orientierungsrahmen auf, wohingegen im sozial privilegierten Pendant die bildungspolitischen Anforderungen als übergeordnetes Orientierungsmuster identifiziert werden.

Die Präsentation der Ergebnisse sozial „privilegierter“ bzw. „belasteter“ Grundschulen der Organisationsformen 2 und 3 erfolgt im Artikel detaillierter. Dies findet seine Begründung darin, dass sich die beiden halbtägigen Grundschulen mit vielen erweiterten Bildungsangeboten zum Zeitpunkt der Datenerhebung Richtung additive Ganztagsgrundschulen entwickeln. Entsprechend der Darstellung im Artikel stehen auch in dieser Rezension zunächst die beiden additiven Ganztagsgrundschulen im Fokus. Es folgen die beiden halbtägigen Grundschulen.

In beiden additiven Ganztagsgrundschulen bestimmen die pädagogischen Akteure die durchgetaktete, mithin für die Schülerschaft anstrengende Tagesstruktur als größtes Orientierungsproblem. Die pädagogischen Akteure der sozial „belasteten“ Grundschule analysieren dabei rein problemfixiert. Die pädagogischen Akteure aus der „privilegierten“ Grundschule formulieren hingegen verschiedene Ursachen für die als anstrengend empfundene Tagesstruktur – ja nach Status: Das weitere pädagogisch tätige Personal erkennt in äußeren und strukturellen Faktoren (Eltern, Kommune, Träger) die Ursache der starken Durchtaktung. Demgegenüber bestimmen Lehrkräfte die Verhältnisse im und um das Nachmittagspersonal als Ursache, aber auch als Lösung des unangemessen getakteten Schultages.

Kennzeichnend für beide Halbtagsgrundschulen mit vielen Nachmittagsangeboten ist der Transformationsprozess zur Ganztagsschule. Die pädagogischen Akteure der sozial „privilegierten“ Grundschule sehen diesen Wandel positiv und verstehen dessen Gestaltung (zumindest auf der verbalen Ebene) als eine gemeinsame Aufgabe von Lehrkräften und weiterem pädagogisch tätigem Personal. Demgegenüber zeigt sich an der sozial „belasteten“ Grundschule, dass die pädagogischen Akteure – Lehrkräfte am Vormittag, weiteres pädagogisch tätiges Personal am Nachmittag – weitgehend autark voneinander handeln.

Wie oben erwähnt, lassen sich einzig für rhythmisierte Ganztagsgrundschulen im übergeordneten Orientierungsrahmen Überzeugungen rekonstruieren, die dem eigenen pädagogischen Handeln ein gewisses Potenzial zuweisen, Bildungsbenachteiligungen abzubauen. Lehrkräfte sozial „belasteter“ Ganztagsgrundschule sehen vor allem im „Mehr an Zeit“, auf das die Lehrkräfte im Sinne einer Unterrichtsverlängerung zurückgreifen können, Chancen für den Abbau von Benachteiligungen. Lehrkräfte sozial „privilegierter“ Ganztagsgrundschulen gründen ihr qualitativ positives Urteil, dass der Ganztag Bildungsbenachteiligungen abbaue, auf ein weiteres Bildungsverständnis, das die Förderung der Sprach- und Persönlichkeitsentwicklung, des sozialen Lernens und Miteinanders einschließt.

Bilanzierend resümieren die Autorinnen und Autoren, dass die Reduktion von Bildungsbenachteiligung als Element des Orientierungsrahmens allenfalls randständig den pädagogischen Akteuren bedeutsam ist. Dies könne seine Ursache auch darin haben, dass der Bildungsbenachteiligungsabbau im Sinne eines stillschweigenden ‚Mythos‘ ein vorrangig implizites Konstrukt bleibt.

Zum Hintergrund:

Die Untersuchung geht der Frage nach, welche Orientierungen das Handeln pädagogischer Akteure in (Ganztags-)Schulen bestimmen. Speziell interessiert dabei, ob die bildungspolitische Forderung nach einer Reduzierung der formalen Bildungsbenachteiligung durch den Einsatz von Ganztag bei den pädagogischen Akteuren als handlungsleitende Orientierung eine Rolle spielt. Hierfür greifen die Autorinnen und Autoren nachvollziehbar als theoretischen Rahmen auf den Neoinstitutionalisimus zurück und rekurrieren auf den relevanten Forschungsstand. Ebenfalls nachvollziehbar ist die von den Forscherinnen und Forschern vorgenommene Rückbindung der Ergebnisse ihrer Untersuchung an die theoretische Grundlegung, wonach sich Arbeitsweisen der pädagogischen Akteure im Ganztag nicht an der bildungspolitischen Setzung des Abbaus von Bildungsungleichheiten orientieren und folglich diesbezüglich eher von einem Mythos zu sprechen ist.

Zum Design:

Mit acht Grundschulen handelt es sich hier um eine Fallstudie. Die vorgenommene Unterteilung der Schulen in eine Schule mit Schülerklientel aus bildungsferneren Elternhäusern und Schülerinnen und Schülern aus bildungsnäheren Elternhäusern je definierter Ganztagsorganisation ist für die Vergleichsperspektive spannend. Allerdings legen die Autorinnen und Autoren nicht dar, anhand welcher Merkmale oder Datengrundlage diese Einteilung erfolgte.

Bezogen auf die Stichprobe erscheint die Berücksichtigung der verschiedenen Perspektiven der an Ganztag beteiligten Professionen und Funktionsinhaber (Lehrkräfte, weiteres pädagogisches Personal, Ganztagskoordination und Schulleitungen) sinnvoll. Unklar bleibt jedoch die genaue Anzahl der je Schule und insgesamt tatsächlich einbezogenen Personen. 

Das gewählte Auswertungsverfahren der Dokumentarischen Methode ist adäquat für die Rekonstruktion der handlungsleitenden Orientierungsmuster. Die Autorinnen und Autoren machen dabei mithilfe von O-Ton-Beispielen exemplarisch die vorgenommenen Interpretationen transparent. Keine Auskunft wird jedoch darüber gegeben, welche Schritte genau im Auswertungsverfahren vorgenommen wurden (Sequenzanalytisch? War eine Typenbildung anvisiert?) und ob und wie die Güte der Auswertung ermittelt wurde. Dies ist verwunderlich, gilt doch die Dokumentarische Methode durchaus als etabliertes Verfahren der rekonstruktiven Sozialforschung, welche wiederum auch Verfahren der Ermittlung von Gütekriterien aufweist.

Zu den Ergebnissen:

Es zeigt sich, dass im Zusammenhang mit Ganztag die Reduzierung der formalen Bildungsbenachteiligung seitens der pädagogischen Akteure keine bzw. nur eine geringe Bedeutung innerhalb des handlungsleitenden Orientierungsrahmens bildet. Eher führen die pädagogischen Akteure andere Benachteiligungen und Einschränkungen an, welche der Ganztag kompensieren soll (zu wenig Zeit, unzureichende Erziehung etc.).

Die Autorinnen und Autoren ordnen ihre Ergebnisse hinsichtlich anderer Untersuchungen ein, wonach damit Befunde bestätigt werden, die zeigen, dass Ganztag auf der Ebene des Orientierungsrahmens von den pädagogischen Akteuren als Kompensationsmodell konzeptualisiert wird, das je unterschiedliche Defizite auffangen soll. Die Verfasserinnen und Verfasser des vorliegenden Artikels bestätigen dieses Ergebnis nicht nur, sondern können präzisierend ergänzen: Mit Ausnahme der rhythmisierten Ganztagsgrundschulen besteht in allen untersuchten Grundschul-Organisationsformen unabhängig vom sozialen Hintergrund der Schülerschaft das gleiche Orientierungsproblem – also was kompensiert, bearbeitet oder vermieden werden soll (Erhalt, Wandel, Durchtaktung). In der Art und Weise, wie mit diesem Orientierungsproblem umzugehen sei, herrscht jedoch Uneinigkeit. Es lässt sich ebenso wenig auf der sozialen wie auf der organisatorischen Ebene ein klares Muster zwischen dem wahrgenommenen Problem (Was) und dessen Lösung im Sinne der pädagogischen Bearbeitung (Wie) erkennen.

Die in Interviews und Gruppendiskussionen gewonnenen Daten zeigen mehrheitlich, dass den Akteuren in Grundschulen der bildungspolitische Wille eines Abbaus von Bildungsbenachteiligungen durchaus bewusst ist. Aus diesem Bewusstsein heraus werden bedarfsweise Handlungen in der jeweiligen Grundschule nach außen hin als Umsetzung des angestrebten Abbaus von Bildungsbenachteiligungen dargestellt bzw. legitimiert. Es griffe aber zu weit, diesen bildungspolitischen Willen als eine handlungsleitende Maxime in der täglichen Arbeit der Akteure in Grundschulen zu deuten. Gegenteilig weisen sogar einige pädagogische Akteure darauf hin, dass für einen Abbau der Bildungsbenachteiligungen die aktuell vorliegenden schulischen Strukturen unzureichend sind. Da die Ergebnisse eine positive Beantwortung der Leitfrage ausschließen, kann die Anschlussfrage, wie sich die Berücksichtigung des Abbaus von Bildungsbenachteiligung im organisationalen Rahmen niederschlägt, zwangsläufig nicht beantwortet werden.

Die erhobenen und interpretierten Daten zeigen, dass der Ganztag über diverse – auch kompensatorische – Potenziale verfügt. Diese liegen aber nicht im Bereich des Abbaus von Bildungsbeachteiligungen. Folgerichtig ist den Autorinnen und Autoren zuzustimmen, dass der politische Wille nach Reduktion von Bildungsbenachteiligung in der pädagogischen Praxis nicht über das Niveau äußerer Legitimation ragt. Von einem Mythos zu sprechen, ist mit Blick auf Orientierung und Praxis der pädagogischen Akteure somit zutreffend.

Auch wenn die Ergebnisse hinsichtlich ihrer Aussagekraft nur eingeschränkt für die untersuchten Fälle zu deuten sind, so sind die hier empirisch generierten Hinweise gerade auch in Richtung bildungspolitischer Akteure und bildungsadministrativ in den Unterstützungssystemen Tätiger relevant: Es bleibt eine zentrale Notwendigkeit, bildungspolitische Leistungsanforderungen an Schule hinsichtlich ihrer Realisierung stärker dahingehend zu begleiten, ob intendierte Zielsetzungen erreicht werden und was Herausforderungen in der pädagogischen Praxis sind, die dieser Zielerreichung entgegenstehen und schließlich wie diesen wiederum unterstützend begegnet werden kann.

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Diese Rezension wurde erstellt von:
Dr. Holger Braune, Schulleiter an der Freien Christlichen Gesamtschule Düsseldorf

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