Fragestellungen der Studie:

  • Wie unterscheiden sich Unterrichtsphasen im Fach Physik in Deutschland, Finnland und der Schweiz?
  • Wie unterscheiden sich Interaktionsformen im Fach Physik in Deutschland, Finnland und der Schweiz?
  • Welche Unterrichtsphasen und welche Interaktionsformen sind im Fach Physik in Deutschland, Finnland und der Schweiz bedeutsam und wie wird die zur Verfügung stehende Zeit für Unterricht genutzt?

Rezension zur Studie

Beerenwinkel, A. & Börlin, J. (2014). Surface Level: Teaching Time, Lesson Phases and Types of Interaction. In H. E. Fischer, P. Labudde, K. Neumann & J. Viiri (Eds.), Quality of Instruction in Physics - Comparing Finland, Germany and Switzerland (S. 65-80). Münster, New York: Waxmann.

Die QuIP-Studie (Quality of Instruction in Physics) zielt darauf ab, durch einen Vergleich von Physikunterricht in Deutschland (NRW), Finnland und der Schweiz qualitätswirksame Merkmale des Unterrichts zu identifizieren, die sich positiv auf zu erwartende Lernergebnisse auswirken. Beerenwinkel und Börlin untersuchen in einem Teilprojekt auf Grundlage videografierter Unterrichtsdoppelstunden zur Thematik elektrische Energie und Leistung beobachtbare Elemente des Unterrichts (Sichtstruktur).

Es zeigen sich für die beteiligten Länder neben vielen Gemeinsamkeiten graduelle Unterschiede in bestimmten Schwerpunktsetzungen. So sind in Deutschland die größten Anteile eines schülerzentrierten, in Finnland größere Anteile eines lehrerzentrierten Physikunterrichts feststellbar. Im deutschen Unterricht findet wesentlich mehr Gruppenarbeit statt als in anderen Ländern. Dagegen spielen Phasen der Wiederholung und Überprüfung in Finnland eine weitaus größere Rolle als etwa in Deutschland.

Die Ergebnisse sind möglicherweise nicht repräsentativ, doch mit Blick auf die Ergebnisse des QuIP-Teilprojekts zu Lernzuwächsen, Interesse und Selbstkonzept (Spoden & Geller, 2014) ist in Übereinstimmung mit Erkenntnissen aus anderen Untersuchungen zu konstatieren, dass sich Unterrichtsqualität und damit verbundene Lernergebnisse nicht allein an Elementen der Sichtstrukturebene festmachen lassen: Zum einen ist Unterricht in Finnland erfolgreicher als in Deutschland (NRW) oder der Schweiz, was aber offensichtlich nicht auf spezielle methodische Kunstgriffe oder einen besonderen pädagogischen Aufwand zurückzuführen ist. Zum anderen wäre es voreilig, Defizite in Unterrichtsergebnissen auf bestimmte Elemente der Sichtstruktur (z. B. Gruppenarbeit) zurückzuführen. Vielmehr scheint die Tiefenstruktur des Unterrichts, also die Art und Weise der kognitiven Auseinandersetzung mit fachlichen Inhalten, eine größere Rolle zu spielen. Diese kann jedoch durch die Wahl bzw. die Gestaltung von Sichtstrukturelementen gefördert oder behindert werden.

In der sogenannten QuIP-Studie (Quality of Instruction in Physics) wird Physikunterricht in Deutschland (Nordrhein-Westfalen), Finnland und der deutschsprachigen Schweiz vergleichend untersucht. Ausgangspunkt ist ein weit gefasstes theoretisches Modell zu Faktoren der Unterrichtsqualität, in dem die Bereiche Lehrereigenschaften, Schülereigenschaften, Unterricht und Lernergebnisse Berücksichtigung finden. Ziel der Studie ist es, länderspezifische typische Muster des Physikunterrichts zu identifizieren, mit denen sich die unterschiedlichen Ergebnisse bei internationalen Vergleichsstudien wie TIMSS und PISA erklären lassen. Um den Unterricht vergleichen zu können, wird eine eingegrenzte Thematik (Elektrische Energie und Leistung) in den Blick genommen, die in allen drei Ländern etwa in der gleichen Altersstufe unterrichtet wird.

In einem Teilprojekt der QuIP-Studie untersuchen Beerenwinkel und Börlin die Unterrichtsgestaltung auf der Sichtstrukturebene. Die Sichtstruktur einer Unterrichtsstunde – manchmal auch als „Oberflächenstruktur“ bezeichnet – ist gekennzeichnet durch direkt beobachtbare Elemente des Unterrichts, z. B. genutzte Unterrichtszeit, Gesprächsanteile von Lehrpersonen und Lernenden, Sozialformen und Strukturierung durch Unterrichtsphasen.

Untersuchungen zur Sichtstruktur werden meist entweder direkt im Klassenraum oder mit Hilfe von Videoanalysen durchgeführt. Beispielhaft sind die Videostudien zur TIMS-Studie im Bereich Mathematik, die zwar unterschiedliche Unterrichtsmuster in verschiedenen Ländern belegen, jedoch keine Zusammenhänge mit Lernergebnissen herstellen konnten. Andere Videostudien zum Physikunterricht in Deutschland und in der Schweiz zeigen nach Angaben des Autorenteams in beiden Ländern zwar recht ähnliche Strukturen, nämlich mehrheitlich lehrerzentrierte Aktivitäten, aber wiederum keine Zusammenhänge zwischen Oberflächenmerkmalen und Lernergebnissen. Lernförderliche bzw. behindernde Elemente des Unterrichts könnten eher bei einem Blick auf die Tiefenstruktur der Stunden identifiziert werden, bei der es um Lernprozesse und die aktive mentale Auseinandersetzung mit Lerninhalten geht.

Auch wenn man aus Merkmalen der Sichtstruktur nicht unbedingt direkt auf Unterrichtsqualität schließen kann, dienen deren Elemente doch der Organisation von Lernprozessen. Das Teilprojekt liefert also für die QuIP-Studie wichtige Informationen und geht folgenden Forschungsfragen nach: Welche Unterschiede in Unterrichtsphasen und in Interaktionsformen gibt es im Fach Physik in den Ländern Deutschland, Finnland und der Schweiz? Welche Unterrichtsphasen und welche Interaktionsformen spielen in den einzelnen Ländern eine besondere Rolle und wie wird die zur Verfügung stehende Zeit für Unterricht genutzt?

Die Analyse der Sichtstruktur wurde auf der Basis von 91 videografierten Doppelstunden (FIN 25, D 39, CH 27) anhand eines Kodierungsschemas durch drei trainierte Beurteiler vorgenommen, von denen einer einen finnisch-deutschen bilingualen Hintergrund besaß. Die Reliabilität der Kodierung zwischen den Beurteilern wies zufriedenstellende Werte auf.

Neben der reinen Unterrichtszeit wurden Zeitspannen für Unterrichtsphasen (Wiederholung, Einstieg, Entwicklung von Neuem/Instruktion, Übung/Anwendung, Zusammenfassung, Rück-blick, Überprüfung) sowie für Interaktionen im Klassenraum (Lehrervortrag, Diktat, lehrer-zentriertes Unterrichtsgespräch, Plenumsdiskussion, Stillarbeit/Einzelarbeit, Partnerarbeit, Gruppenarbeit) erhoben. Daraus lassen sich die prozentualen Unterrichtsanteile der einzelnen Phasen ermitteln.

Zum Vergleich der Länder wurden für jede beobachtete Facette Mittelwerte gebildet und mittels gängiger statistischer Methoden Unterschiede zwischen jeweils zwei Ländern berechnet. Außerdem wurde länderbezogen für jede Facette der prozentuale Anteil der Doppelstunden bestimmt, in denen diese Facette nicht zu beobachten war. Weil in allen drei Ländern kaum Kodierungen für Rückblick, Plenumsdiskussion und Partnerarbeit vorlagen, wurden diese drei Variablen nicht zum Vergleich der Länder herangezogen.

Beerenwinkel und Börlin stellen die Analyseergebnisse ausführlich dar, jedoch finden sich häufig keine oder nur geringe Unterschiede. An dieser Stelle werden überwiegend die Befunde referiert, bei denen sich signifikante Abweichungen zwischen den Ländern zeigen:

Wiederholung

Für das Wiederholen und das Aktualisieren von Vorwissen wird in Finnland im Mittel etwa dreimal so viel Zeit wie in Deutschland aufgewendet. Während in jeder finnischen Stunde Wiederholungsphasen zu finden sind, fehlen diese in 36 % der deutschen Stunden.

Überprüfung

Ebenfalls erheblich mehr Zeit als in Deutschland oder der Schweiz wird im finnischen Unterricht für Überprüfungen eingesetzt (Lernerfolg, Leistungen, Hausaufgaben). Dort werden Überprüfungen in etwa der Hälfte der Unterrichtsstunden kodiert, in Deutschland und in der Schweiz nur bei etwa einem Zehntel.

Lehrervortrag und Diktat

Lehrervorträge nehmen in der Schweiz und in Finnland einen deutlich größeren Raum ein als in Deutschland. Vor allem in Finnland werden den Schülerinnen und Schülern weitaus mehr als wichtig betrachtete Angaben diktiert, die diese schriftlich festhalten sollen.

Gruppenarbeit

Gruppenarbeit ist in Deutschland in über der Hälfte der Stunden anzutreffen, ihr Anteil ist mehr als dreimal so groß wie in Finnland und etwa viermal so groß wie in der Schweiz. Allerdings treten in der Schweiz längere Phasen mit mehreren Interaktionsformen auf, etwa gleichzeitig beobachtbare Gruppen- und Partnerarbeit.

Insgesamt werden für Finnland 60 % des beobachteten Unterrichts als lehrerzentriert charakterisiert, für die Schweiz 55 % und für Deutschland 47 %. Umgekehrt sind in Deutschland 36 % der Stundenteile als schülerzentriert zu bezeichnen, in Finnland (25 %) und der Schweiz (29 %) sind diese Anteile geringer.

Insgesamt macht das Autorenteam in der Sichtstruktur des Unterrichts der drei Länder viele Ähnlichkeiten aus (z. B. Nutzung der Unterrichtszeit), aber auch möglicherweise relevante Unterschiede. Diese betreffen vor allem Unterrichtsphasen der Wiederholung und der Überprüfung von Lernfortschritten, die eigentlich als wesentliche Schritte des Lernens angesehen werden. Sie nehmen offenbar in Finnland einen breiteren Raum ein als in den anderen beiden Ländern. Bedeutsam könne auch die in Finnland anzutreffende deutlich stärkere Führung durch die Lehrpersonen sein.

Weiteren Untersuchungsbedarf sehen Beerenwinkel und Börlin bei der Frage, ob ähnliche Sichtstrukturen bei der Behandlung anderer Physikthemen vorzufinden sind, und inwieweit die Gestaltung des Unterrichts inhaltsabhängig ist.

Hintergrund: Large-Scale-Assessments liefern aussagefähige Momentaufnahmen zu Lernergebnissen, sie zeigen aber kaum Handlungsperspektiven zur Qualitätssteigerung des Unterrichts auf. Solche Perspektiven sind jedoch erforderlich, um Konsequenzen aus Leistungsvergleichen ziehen zu können. Dass hier ein erheblicher Bedarf besteht, lässt sich u. a. an der Aufmerksamkeit erkennen, die die Hattie-Metaanalyse (Hattie, 2008, 2011) zu Faktoren der Unterrichtsqualität erhalten hat.

Es ist naheliegend, für mögliche Verbesserungsmaßnahmen des Unterrichts danach zu suchen, was erfolgreiche Länder anders machen. Die QuIP-Studie geht diese Suche deutlich konsequenter an als vorherige Bemühungen. Ausgangspunkt ist ein theoretisches Modell der Unterrichtsqualität, dessen Faktoren in den Vergleichsländern einerseits differenziert, andererseits in ihren Zusammenhängen empirisch untersucht werden.

Ergebnisse: Die Ergebnisse des hier betrachteten Teilprojekts der QuIP-Studie bestätigen im Prinzip frühere Befunde, dass Elemente der Sichtstruktur von Unterricht für sich genommen keine Aussagen zur Qualität des Unterrichts erlauben. In allen drei Ländern der Studie sind weitgehend ähnliche Elemente auszumachen, allerdings in unterschiedlicher Betonung. Für Schlüsse, wie sich diese unterschiedlichen Betonungen auf die Ergebnisse des Unterrichts auswirken, müssen weitere Informationen herangezogen werden. Wenn etwa die Lernwirksamkeit einer stärkeren oder schwächeren Steuerung des Unterrichts durch die Lehrpersonen beurteilt werden soll, stellt sich die Frage, in welchen Aspekten diese lehrerzentrierten Aktivitäten welche Wirkungen erzielen sollen und in welchem Umfang dieses gelingt. Umgekehrt ist zu fragen, welche Intentionen und Auswirkungen mit stärker schülerorientiertem Unterricht verbunden sind. Die längeren Phasen für Prozesse wie Wiederholung und Überprüfung in Finnland könnten darauf hinweisen, dass dort der Stabilität von Wissensbeständen mehr Beachtung geschenkt wird. Aber auch das wäre durch weitere Untersuchungen zu belegen.

Auffallend ist der relativ starke Anteil schülerzentrierter Unterrichtselemente in den deutschen Klassen. In früheren Untersuchungen zum Physikunterricht in Deutschland wurde nach Angaben der Autoren eine starke Lehrerzentrierung konstatiert. Es ist nicht klar, ob die QuIP-Befunde darauf hinweisen, dass hier in den letzten Jahren eine Veränderung der Unterrichtsformen stattgefunden hat, oder ob es sich um typische Ausprägungen von Unterrichtsmustern („globale Aktivitäten“) handelt, die auch schon in einer Begleitstudie zu PISA 2006 besonders stark für den naturwissenschaftlichen Unterricht in NRW gefunden wurden.

Ein Schluss dürfte berechtigt sein: Ansätze, die Unterrichtsqualität an bestimmten Formen der äußeren Unterrichtsgestaltung festmachen, greifen wohl zu kurz. Insofern ergibt sich eine Übereinstimmung mit Ergebnissen der Hattie-Metaanalyse von Forschungsprogrammen zur Unterrichtsqualität. Gruppenarbeit ist nicht per se effektiver als Frontalunterricht, selbstgesteuertes Lernen nicht unbedingt wirksamer als direkte Instruktion. Es wäre jedoch ebenso verfehlt, daraus auf eine Beliebigkeit der Unterrichtsmethoden zu schließen oder gar auf wenige traditionelle Methoden zurückzufallen. Bestimmte Ziele und Lernwege sind über besondere Lernformen eher zugänglich, über andere nicht. Es dürfte auf die passgenaue Abstimmung von Unterrichtshandlungen auf erforderliche Lernprozesse ankommen.

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Diese Rezension wurde erstellt von:
Dr. Georg Trendel, Referent für Naturwissenschaften, Arbeitsbereich 5: Unterrichtsentwicklung, Standardüberprüfung, Qualitäts- und Unterstützungsagentur – Landesinstitut für Schule des Landes Nordrhein-Westfalen (QUA-LiS NRW).

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