Fragestellungen der Studie:

  • Was beeinflusst den Erwerb von computerbezogenen Kompetenzen?
  • Gibt es zwischen Jungen und Mädchen Unterschiede bezüglich ihrer Selbsteinschätzung und den tatsächlichen computerbezogenen Kompetenzen?
  • Was beeinflusst die computerbezogene Selbstwirksamkeitserwartung von Jugendlichen?
  • Bestehen Unterschiede zwischen der Selbsteinschätzung von Jugendlichen und ihren tatsächlichen computerbezogenen Kompetenzen?

Rezension zur Studie

Ihme, J. M. & Senkbeil, M. (2017). Warum können Jugendliche ihre eigenen computerbezogenen Kompetenzen nicht realistisch einschätzen? Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 49(1), 24–37.FIS Bildung

Die Autoren untersuchen mittels empirischer Prüfung eines aufgestellten Erklärungmodells die bestehende Diskrepanz zwischen tatsächlichen computerbezogenen Kompetenzen und der entsprechenden Selbsteinschätzung von Jugendlichen.

Die Forscher gehen dabei von der Annahme aus, dass der geringe Zusammenhang zwischen Selbsteinschätzung und den tatsächlichen Kompetenzen durch unterschiedliche Erwerbswege erklärbar ist. Die Ergebnisse zeigen, dass die computerbezogenen Kompetenzen vor allem autodidaktisch sowie gestützt durch Eltern erworben werden und dass die Schule als Vermittlungsinstanz eine untergeordnete Rolle spielt. Hinsichtlich der Selbsteinschätzung erweist sich sogar nur die selbstgesteuerte Erfahrung der Jugendlichen am Computer als statistisch erklärungsmächtig.

Während sich keine Geschlechtsunterschiede in Bezug auf computerbezogene Kompetenzen ausmachen lassen, tendieren eher Jungen als Mädchen der Stichprobe dazu, ihre Fähigkeiten höher einzuschätzen. Die positive Selbsteinschätzung scheint mit der Häufigkeit der Nutzung des Computers und weniger mit dem tatsächlichen Kenntnisstand zusammenzuhängen.

Auch wenn die Befunde aufgrund der Stichprobengröße und des querschnittlichen Designs zum Teil vorsichtig zu interpretieren sind, bestätigen die Ergebnisse andere Studien, welche ebenfalls die untergeordnete Bedeutung der Institution Schule beim Erwerb computerbezogener Kompetenzen problematisieren. Die hier betrachtete Untersuchung verdeutlicht gerade in Bezug auf die Selbsteinschätzung von Jugendlichen die Notwendigkeit systematischer Rückmeldungen zum informations- und computerbezogenen Kompetenzerwerb durch die Schule, welche einer „Kompetenzillusion“ der Jugendlichen entgegenwirken könnten.

Die Vielzahl elektronisch bereitgestellter Informationen erfordert von Jugendlichen verstärkt die Fähigkeit, vertrauenswürdige Informationen zu generieren, diese für ihre Zwecke digital zu bearbeiten und zu nutzen. Auch wenn bildungspolitisch nicht zuletzt mit der KMK-Strategie „Bildung in der digitalen Welt“ der Erwerb informations- und computerbezogener Kompetenzen als hoch bedeutsam auch für die schulischen Bildungsprozesse erachtet wird, erhalten Schülerinnen und Schüler im Unterschied zu anderen Wissensbereichen hinsichtlich ihrer computerbezogenen Kompetenzen keine systematische Rückmeldung, so dass die Neigung zur Fehleinschätzung gegeben ist.

Die Autoren stellen anhand des Forschungsstandes heraus, dass es nur einen schwachen Zusammenhang zwischen der Selbsteinschätzung von Jugendlichen zu ihren computerbezogenen Kompetenzen und den tatsächlichen Kompetenzen gibt und in der Regel hier eher eine Diskrepanz besteht. Darauf rekurrierend entwickeln die Autoren ein Erklärungsmodell, über das die Annahme verfolgt wird, dass computerbezogene Kompetenzen und deren Selbsteinschätzung auf unterschiedliche Weise erworben werden und sich hierüber der geringe Zusammenhang erklären lässt. Dies soll die Möglichkeit eröffnen, Fehlschlüsse zu antizipieren und Gegenmaßnahmen zu entwickeln. Dabei unterscheiden die Autoren theoretisch und unter Einbezug von empirischen Befunden zwischen Erwerbswegen, die über schulische, familiäre oder autodidaktische Prozesse erfolgen und treffen überdies die Annahme, dass hier auch soziale Hintergrundmerkmale der Jugendlichen wie etwa das familiäre kulturelle Kapital, die bedeutsam.

Zur empirischen Überprüfung ihres hypothesengestützten Erklärungsmodells werden im Einzelnen folgende Fragestellungen verfolgt: Bestehen Unterschiede zwischen der Selbsteinschätzung von Jugendlichen und ihren tatsächlichen computerbezogenen Kompetenzen? Was beeinflusst die computerbezogene Selbstwirksamkeitserwartung von Jugendlichen? Was beeinflusst den tatsächlichen Erwerb von computerbezogenen Kompetenzen? Gibt es zwischen Jungen und Mädchen Unterschiede bezüglich der Selbsteinschätzung und den tatsächlichen computerbezogenen Kompetenzen?

Zur Beantwortung der Fragestellungen nutzten die Forscher die Datenerhebung einer Pilotierungsstudie des Nationalen Bildungspanels zur Erfassung computerbezogener Kompetenzen. Insgesamt 224 Jugendliche (Mädchen und Jungen in etwa zahlenmäßig gleich vertreten) der achten Jahrgangsstufe von elf Schulen aus Schleswig-Holstein nahmen an der Studie teil. Dabei besuchten 39,7% der Schülerinnen und Schüler ein Gymnasium, 28,6 % eine Realschule und 31,7 % eine Hauptschule.

Die Autoren verwendeten für die Erhebung unterschiedliche Instrumente: die computerbezogenen Kompetenzen wurden anhand des technologisch- und informations-bezogenen Literacy-Tests (TILT; Senkbeil et al., 2013) erfasst, welcher aus 36 Multiple-Choice und Multiple-True-False Aufgaben besteht. Die Antworten der Schülerinnen und Schüler wurden skaliert und je Person mittels Fähigkeitsschätzer zusammengefasst, welcher in dem Strukturgleichungsmodell dann als latente Variable einging.

Mittels eines Fragebogens zur individuellen Computernutzung wurden neben soziodemografischen Merkmalen der Schülerinnen und Schüler verschiedene Konstrukte erfasst: Die Selbsteinschätzung wurde über neun Items auf einer vierstufigen Skala eingeschätzt. Die Vermittlungsinstanzen wurden über sechs Computeranwendungen (Betriebssystem, Textverarbeitung, Tabellenkalkulation, Präsentationsprogramme, E-Mail, Internet) erfragt, und als potenzielle Vermittlungsinstanzen für computerbezogene Kenntnisse kategorisierten die Forscher die eigene Person (autodidaktische Vermittlung), Familie und Schule. Die Häufigkeit der Computernutzung wurde über zwei „a) zu Hause“, „b) in der Schule“ sechsstufige Items (1 = nie, 2 = alle paar Monate, 3 = ein bis zwei Mal pro Monat, 4 = einmal pro Woche, 5 = mehrmals pro Woche, 6 = (fast) jeden Tag) erhoben. Die erfragte Anzahl der Bücher im Haushalt diente der Erfassung des kulturellen Kapitals.

Zur Quantifizierung der latenten Variablen „selbstgesteuerte PC-Erfahrungen“, „instruktionale Unterstützung durch die Familie“ und „instruktionale Unterstützung durch die Schule“ sowie „kulturelles Kapital“ wurden formative Messmodelle eingesetzt.  Selbstwirksamkeitserwartung und computerbezogene Kompetenzen erfassen reflexive Messmodelle, so dass das Gesamtmodell aus einem Strukturmodell und formativen und reflexiven Messmodellen besteht. Zur Korrektur fehlender Werte wurde auf Full Information Maximum Likelihood (FIML) zurückgegriffen. Der Fit des Modells lag im akzeptablen Bereich.

Die Hypothese der Autoren, dass viele Jugendliche ihre computerbezogenen Kompetenzen nur sehr ungenau einschätzen können, wird bestätigt. Die Korrelation zwischen selbsteingeschätzten und objektiv gemessenen computerbezogenen Kompetenzen mit TILT beträgt r = .22 (p < .01).

Bedeutsam für die Voraussage der Selbsteinschätzung computerbezogener Kompetenzen sind die selbstgesteuerte Erfahrungen (b = .71, p < .001), worunter Indikatoren wie der autodidaktische Erwerb der Kompetenzen und die häusliche PC-Nutzung fallen. Mit Abstand folgt instruktionale Unterstützung in der Familie (b = .15, p < .05). Ohne Wirkung ist instruktionale Unterstützung durch die Schule (b = .11, p < .08); auch das kulturelle Kapital der Familie (b = -.00, p = .98) erweist sich als nicht prädiktiv.

Computerbezogene Kompetenzen werden durch die instruktionale Unterstützung durch die Familie (b = .27, p < .01), das kulturelle Kapital der Familie (b = .31, p < .001) und die selbstgesteuerten Erfahrungen, also z.B. die autodidaktische Aneignung (b = .34, p < .001), vorausgesehen. Instruktionale Unterstützung durch die Schule  (b = .08, p < .33) ist analog zur Selbsteinschätzung beim Erwerb der computerbezogenen Kompetenzen ohne Relevanz.

Während dem Geschlecht eine Bedeutung bei der Prädiktion der Selbsteinschätzung computerbezogener Kompetenzen (b = .18, p < .01) einzuräumen ist, wonach Jungen eher als Mädchen zu einer höheren Einschätzung ihrer Kompetenzen neigen, zeigen sich hinsichtlich des tatsächlichen Kompetenzerwerbs keine geschlechtsspezifischen Unterschiede.

Hintergrund: Mit ihrem über vorhandene Forschungsbefunde und theoretische Bezüge hergeleiteten Erklärungsmodell überprüfen die Autoren den geringen Zusammenhang zwischen den tatsächlich vorhandenen computerbezogenen Kompetenzen und der entsprechenden Selbsteinschätzung von Jugendlichen und spüren empirisch Erklärungen für diese Diskrepanz auf. Die Forscher greifen damit ein wesentliches Forschungsdesiderat für Schule und Administration auf. So dient eine realistische Selbsteinschätzung insbesondere bei Jugendlichen dazu, eigene Stärken zu nutzen und Schwächen zu beheben. Nachvollziehbar erläutern die Forscher, dass es eines Erklärungsmodells bedarf, welches die mangelhaft ausgeprägte realistische Selbsteinschätzung antizipiert. Nur so können Gegenmaßnahmen entwickelt werden, zu denen etwa notwendige schulisch systematische Kompetenzrückmeldungen gehören. Die Autoren leiten ihre Fragestellungen und das zugrunde gelegte Erklärungsmodell dezidiert und plausibel ab und legen transparent dar, welche Hypothesen sie für ihre empirische Untersuchung zugrunde legen.

Design: Die aufgestellten Hypothesen sind geeignet, um das Forschungsvorhaben zu konstruieren. Die Instrumente werden nachvollziehbar beschrieben. Die Stichprobenauswahl wird offengelegt. Der Rückgriff auf FIML zur Korrektur fehlender Werte wird begründet. Die schwache Korrelation der selbsteingeschätzten und tatsächlich gemessenen computerbezogenen Fähigkeiten (r = .22) lassen das Erklärungsmodell für die Diskrepanz als sinnvoll erscheinen.

Ergebnisse: Die Zielsetzung des Forschungsvorhabens wird insofern erreicht, als die Autoren ihre zentrale Annahme, dass Selbsteinschätzung der computerbezogenen Kenntnisse und die tatsächlichen Kompetenzen auf unterschiedlichen Erwerbswegen erfolgen, welche wiederum durch verschiedene Vermittlungsinstanzen bedingt sind, empirisch überprüfen. Befunde zeigen, dass die Annahme bestätigt wird: Demzufolge besteht nur eine schwache Korrelation zwischen Selbsteinschätzung und tatsächlichen Kompetenzen, und hinsichtlich der untersuchten Vermittlungsinstanzen wird sichtbar, dass die Institution Schule sowohl in Bezug auf den Kompetenzerwerb als auch bezogen auf die Kompetenzeinschätzung der Schülerinnen und Schüler offenbar keine Relevanz besitzt. Deutlich wird hingegen, dass es vornehmlich selbstbezogene Erfahrungen der Jugendliche (also z.B. autodidaktische Aneignung) sind, die sowohl für die Selbsteinschätzung als auch für die tatsächlichen Kompetenzen Vorhersagekraft besitzen.

Plausibel wird aus der gewonnenen Datenlage gefolgert, dass sich durch den vornehmlichen Erwerb computerbezogener Kompetenzen gestützt durch das häusliche Umfeld sozial bedingte Disparitäten vergrößern, da vorhandene Studien zeigen, dass z. B. ein höherer Sozialstatus mit höheren computerbezogenen Kompetenzen einhergeht. Demzufolge diskutieren die Autoren äußerst nachvollziehbar, dass die Gefahr der Ausprägung einer „digitalen Schere“ bestünde, sollte es der Schule nicht gelingen, einen Ausgleich im Bereich der computerbezogenen Kernkompetenzen zu schaffen. Zentral ist hierbei auch, der offenbar insbesondere bei Jungen stattfindenden Selbstüberschätzung entgegenzuwirken, z.B. durch systematische Kompetenzrückmeldungen durch die Schule.

Ihme und Senkbeil schränken bereits ein, dass die Analyse auf einer Querschnittsdatenerhebung beruht und damit achtsam interpretiert werden sollte. Auch die Stichprobengröße schränkt die Aussagekraft ein, allerdings bestätigen die Befunde bereits vorliegende Erkenntnisse anderer Studien, wobei mit der hier vorgenommenen empirischen Prüfung der getroffenen Annahmen ein wichtiger Beitrag zur Klärung des lediglich geringen Zusammenhangs zwischen den eingeschätzten und den tatsächlichen computerbezogenen Kompetenzen von Jugendlichen gelungen ist. Perspektivisch wünschenswert sind Untersuchungen, die die Vermittlungsfunktion von Schule differenzierter nach spezifischen Teilkompetenzen betrachten und hier ggfs. Unterschiede ermitteln.

Die Forscher geben nachvollziehbar zu bedenken, dass die Möglichkeiten der elterlichen Unterstützung nicht immer mit den tatsächlichen gleichzusetzen sind, so dass die Rolle der Eltern genauer untersucht werden muss. Dies scheint auch aus schulentwicklerischer Perspektive interessant, da gerade angesichts des Befundes zur Relevanz des häuslichen Umfelds zu fragen ist, wie denn das Potenzial „Elternarbeit“ auch für eine verbesserte institutionelle Arbeit der Schule hinsichtlich der  Förderung von computerbezogenen Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern genutzt werden könnte.

Diese Rezension wurde erstellt von:
Dr. Jutta Kolloch, Lehrerin am Berufskolleg Ehrenfeld, Köln

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