Fragestellungen der Studie:

  • Welche Auswirkungen hat die verkürzte Gymnasialzeit auf die Freizeitgestaltung von Jugendlichen?

Rezension zur Studie

Laging, R., Böcker, P. & Dirks, F. (2014). Zum Einfluss der Schulzeitverkürzung (G8) auf Bewegungs- und Sportaktivitäten von Jugendlichen. Sportunterricht, 63(3), 66–72.FIS Bildung

In der Debatte um die gymnasiale Schulzeitdauer wird u. a. angenommen, dass sich die verkürzte Schulzeit negativ auf die Freizeitgestaltung von Schülerinnen und Schülern auswirkt. Laging et al. (2014) untersuchen mit Hilfe einer standardisierten Befragung von 2.208 Schülerinnen und Schülern des doppelten Abiturjahrgangs in Hessen deren Freizeitgestaltung insbesondere im Zusammenhang mit Bewegungs- und Sportaktivitäten.

Es zeigt sich, dass die G8-Schülerinnen und Schüler weniger Zeit für Freizeitsport aufbringen und sich im Vergleich zu den G9-Schülerinnen und Schülern eher in Richtung des organisierten Sports orientieren.

Die Studie liefert wichtige Erkenntnisse zu diesem bislang nur selten untersuchten Aspekt im Kontext der G8/G9-Debatte. Aufgrund der Studienanlage sind die Befunde nicht verallgemeinerbar. Sie fügen sich in die Reihe bisheriger Studien zur außerschulischen Freizeitgestaltung ein, die bislang uneinheitliche Wirk- bzw. Zusammenhangsmuster bei differenten Schulstrukturen beschreiben.

Fast alle Bundesländer haben im letzten Jahrzehnt die Länge der Schulzeit bis zum Abitur von 13 auf 12 Jahre reduziert. In mehreren Bundesländern zeichnen sich vor dem Hintergrund anhaltender Diskussionen Tendenzen der Rück-Reform ab oder es ist bereits zur Rückkehr zum neunjährigen Bildungsgang gekommen. Unter anderem wird befürchtet, die verkürzte Schulzeit könne sich durch die Verdichtung des Lehrplans und Verlängerung der Schultage negativ auf Umfang und Art der Freizeitgestaltung der Schülerinnen und Schüler des achtjährigen gymnasialen Bildungsgangs auswirken. Befunde hierzu liegen bislang kaum vor. Der Beitrag von Laging et al. (2014) greift dieses Desiderat auf und untersucht die Freizeitgestaltung insbesondere mit Blick auf Sport- und Bewegungsaktivitäten einer Stichprobe von G8- und G9-Schülerinnen und Schülern des doppelten Abiturjahrgangs in Hessen.

In der Einleitung greifen die Autorin und Autoren die in der gesellschaftspolitischen Debatte insbesondere in den alten Bundesländern wiederholt geäußerte Kritik auf, dass es im Zuge der Schulzeitverkürzung bei G8-Schülerinnen und Schülern durch die Verdichtung der Lehrpläne und Verlängerung der Schultage zu Einschränkungen bei Freizeitaktivitäten käme. Laging et al. (2014) stellen jedoch fest, dass zu diesem Diskursaspekt zum Zeitpunkt der Abfassung ihres Beitrags „so gut wie keine empirischen Erkenntnisse“ existieren (S. 66). Anschließend verweisen sie auf Veröffentlichungen zu diesem Diskursaspekt, ohne den Forschungsstand aufzuarbeiten.

Danach stellen sie die Fragestellung und das Design der Studie vor. Sie erheben die zeitlichen Belastungen, sportlichen Aktivitäten und zu Schule und Freizeit von Schülerinnen und Schülern des doppelten Abiturjahrgangs in Hessen.

Stichprobe: Zur Beantwortung der o. g. Fragestellungen haben die Autorin und Autoren Daten von 2.208 Schülerinnen und Schülern ausgewertet. Dabei handelt es sich um 955 Schülerinnen und Schüler des ersten G8-Jahrgangs und 1.252 Schülerinnen und Schüler des letzten G9-Jahrgangs aus der Einführungsphase von 23 Gymnasien in Hessen.

Untersuchungsablauf: Die Studie wurde im Rahmen einer standardisierten onlinebasierten Vor-Ort-Befragung realisiert. Zu dem verwendeten Forschungsinstrument werden keine Angaben gemacht.

Statistische Analysen: Die Autorin und Autoren berichten für die Beantwortung ihrer Forschungsfragen ausschließlich relative Häufigkeiten.

Es zeigt sich, dass nur ein geringer Anteil der Schülerinnen und Schüler (14,6 %) unabhängig vom besuchten Bildungsgang bewegungsinaktiv ist. Im Bereich der Individualsportarten geben G8-Schülerinnen und Schüler signifikant häufiger die Schulzeit als Grund zur Aufgabe einer Sportart an. Im Blick auf die Beendigung einer Vereins- oder Freizeitsportart über die Mittelstufenzeit gesehen existieren kaum Unterschiede zwischen G8- und G9-Schülerinnen und Schülern. Es lässt sich kein Rückgang der Vereinsaktivität und des Sportengagements als Folge der Schulzeitverkürzung feststellen.

Im Blick auf den Freizeitsport berichten die G8-Jugendlichen für die Zeit im 8. und 9. Jahrgang von deutlich mehr Freizeitsportarten. Sie sind aber im Vergleich zu den G9-Jugendlichen und mit Blick auf die wöchentliche Häufigkeit insgesamt etwas weniger häufig aktiv. Gleichzeitig berichten die Schülerinnen und Schüler aus dem achtjährigen Bildungsgang von einer höheren Anzahl an ausgeübten Sportarten im Verein und in der Freizeit. Die G8-Stichprobe ist im Vereinssport aktiver, die G9-Stichprobe treibt im zeitlichen Umfang mehr Freizeitsport. Hinsichtlich des schulischen Sportengagements zeigt sich, dass die G8-Jugendlichen tendenziell häufiger an Sport- und Bewegungsaktivitäten teilnehmen.

Zum Hintergrund: Die Studie von Laging et al. (2014) greift ein für die Schule und Administration relevantes Forschungsdesiderat auf. Es werden die Art und der Umfang der Freizeitgestaltung insbesondere mit Blick auf die Sport- und Bewegungsaktivitäten in der Freizeit, Schule und Verein von G8- und G9-Schülerinnen und Schülern des doppelten Abiturjahrgangs in Hessen untersucht.

Die Autorin und Autoren beziehen sich bei der Herausstellung der Relevanz ihrer Untersuchung auf die gesellschaftspolitische Debatte zu den negativen Wirkungen der gymnasialen Schulzeitverkürzung hinsichtlich der Freizeitgestaltung der G8-Schülerinnen und Schüler sowie die zum Zeitpunkt der Durchführung ihrer Studie kaum vorliegende empirische Evidenz zu diesem Diskursaspekt. Anschließend benennen sie Studien, die zu diesem Aspekt erschienen sind. Jedoch werden deren Ergebnisse für die eigene Untersuchung, z. B. für die Ableitung von Hypothesen, nicht aufgearbeitet. Die Argumentationsweise sowie die Diskursbezüge sind stringent und überzeugend. Ein Forschungsüberblick fehlt.

Zum Design: Das Studiendesign und die Durchführung werden komprimiert und wenig nachvollziehbar benannt. Es fehlen jegliche Angaben zum verwendeten Forschungsinstrument. Die Vorgehensweise bei der statistischen Datenanalyse wird nicht berichtet. Ergebnisdarstellungen in schriftlicher und grafischer Form beschränken sich auf den Bericht relativer Häufigkeiten. Vereinzelt werden Ergebnisse als „signifikant“ oder „hoch signifikant“ bezeichnet (z. B. S. 69). Es bleibt jedoch unklar, auf welcher Basis die Signifikanz ermittelt wurde. Die methodische Vorgehensweise lässt sich auf der Grundlage der verfügbaren Informationen somit nicht abschließend beurteilen. Weiterhin fällt auf, dass im Ergebnisteil teilweise von Auswirkungen mit der Schulzeitverkürzung (z. B. S. 67) und teilweise von Zusammenhängen mit eben dieser (z.B. S. 69) berichtet wird. Die methodische Anlage der Studie (Querschnitt-Design) lässt lediglich den Bericht von Zusammenhängen zu. Eine theoretisch fundierte Begründung für eine teilweise formulierte Kausalität fehlt an diesen Stellen. Methodische Einschränkungen werden von der Autorengruppe nicht diskutiert.

Zu den Ergebnissen: Die Zielstellung der Untersuchung wird erreicht und die vorgenommenen Schlussfolgerungen erscheinen plausibel. Die theoretische Einordnung der Ergebnisse gelingt: So werden der Körper und die Bewegung als bedeutsame Sozialisationsinstanz und Erprobungsfeld zur Identitätsfindung gedeutet, weswegen die Autorengruppe zu dem Schluss kommt, dass die G8-Jugendlichen „trotz Zeitverknappung und größerer schulischer Belastung - ihre sportlichen Aktivitäten nicht aufgeben oder zurückstellen“ (S. 71). Abschließend wird die Bedeutung der Schule herausgestellt, um sowohl sportlich aktive als auch weniger aktive Schülerinnen und Schüler zu erreichen und für Sport- und Bewegungsaktivitäten zu gewinnen.

Die Autorin und Autoren beziehen sich nicht auf Limitationen ihrer Studie: Hierzu zählen nach Auffassung des Rezensenten eine nicht auszuschließende Stichprobenspezifik insgesamt und für die einzelnen Bildungsgänge. Es bleibt somit auch unklar, inwiefern sich die Ergebnisse verallgemeinern lassen. Des Weiteren könnten auch Kohorteneffekte zur Verzerrung der Ergebnisse beitragen, da sie in dieser Studie nicht kontrolliert wurden. Zudem sollten die Aussagen zu den Freizeitaktivitäten in der Mittelstufe der Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage retrospektiver Berichte angesichts anzunehmender eingeschränkter valider Erinnerungsleistungen der Befragten an länger zurückliegende Ereignisse vorsichtig interpretiert werden.

Abschließend sei erwähnt, dass die vorliegende Studie in einer praxisnahen Zeitschrift veröffentlicht wurde, die neben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vor allem auch von (angehenden) Sportlehrkräften und Verantwortlichen der zweiten Phase der Lehrerbildung gelesen wird. Die aus wissenschaftlicher Sicht unzureichende Aufbereitung der Studie lässt sich nach Auffassung des Rezensenten vor diesem Hintergrund als Beitrag zur Adressatenorientierung erklären.

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Diese Rezension wurde erstellt von:
Dr. Mirko Krüger, PD, Lehrer an der Georg-Müller-Gesamtschule in Wetter (Ruhr) und Lehrbeauftragter an der Fakultät für Bildungswissenschaften, Universität Duisburg-Essen. Arbeitsschwerpunkte: Schul- und Schulsportentwicklung, Sprachbildung im Sportunterricht, Professionalisierung von Lehrkräften

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