Fragestellungen der Studie:
Rezension zur Studie
Blumentritt, L., Kühn, S. M. & van Ackeren, I. (2014). (Keine) Zeit für Freizeit? Freizeit im Kontext gymnasialer Schulzeitverkürzung aus Sicht von Schülerinnen und Schülern. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 9(3), 355–370.FIS BildungIn der Debatte um die gymnasiale Schulzeitdauer wird u.a. angenommen, dass sich die verkürzte Schulzeit negativ auf die Freizeit von Schülerinnen und Schülern auswirkt. In dem für diese Rezension betrachteten Beitrag wird dieser Diskursaspekt aufgegriffen, indem die Autorinnen mit Hilfe einer standardisierten Befragung von 1.055 Schülerinnen und Schülern des acht- und neunjährigen Bildungsgangs von Gymnasien in Nordrhein-Westfalen, die am Schulversuch „Abitur an Gymnasien nach 12 oder 13 Jahren“ teilgenommen haben, nach ihren Freizeitressourcen befragen und Gruppendiskussionen durchführen. Es zeigen sich zwischen den beiden Schülergruppen keine statistisch bedeutsamen Unterschiede hinsichtlich zeitlicher Ressourcen zur Freizeitgestaltung, jedoch liegen im Vergleich beider Gruppen unterschiedliche Ausgestaltungsweisen und freizeitliche Schwerpunktlegungen vor. Aus den Gruppendiskussionen wird deutlich, dass die Schülerinnen und Schüler des achtjährigen Bildungsgangs eine Diskrepanz zwischen dem besuchten Bildungsgang und der Effizienz des Lernens wahrnehmen: Obwohl die G8-Schülerinnen und Schüler mehr Unterricht haben, sind die G9-Schülerinnen und Schüler mit dem Lernstoff weiter. Die Studie liefert wichtige Erkenntnisse zu diesem bislang nur selten untersuchten Aspekt im Kontext der G8/G9-Debatte. Aufgrund der Studienanlage sind die Befunde nicht verallgemeinerbar. Die vorgestellten Ergebnisse aus den Gruppendiskussionen weisen einen eher explorativen Charakter auf. Sie fügen sich in die Reihe bisheriger Studien zu außerschulischen Freizeitressourcen ein, die bislang uneinheitliche Wirk- bzw. Zusammenhangsmuster bei differenten Schulstrukturen beschreiben.
Fast alle Bundesländer haben im letzten Jahrzehnt die Länge der Schulzeit bis zum Abitur von 13 auf 12 Jahre reduziert. In mehreren Bundesländern zeichnen sich vor dem Hintergrund anhaltender Diskussionen Tendenzen der Rück-Reform ab oder es ist bereits zur Rückkehr zum neunjährigen Bildungsgang gekommen. Unter anderem wird befürchtet, die verkürzte Schulzeit könne sich negativ auf die Freizeitressourcen der Schülerinnen und Schüler auswirken, die den achtjährigen gymnasialen Bildungsgang besuchen. Befunde hierzu liegen bislang nur vereinzelt vor. Der Beitrag von Blumentritt et al. (2014) greift diese Forschungslücke auf und untersucht den Umfang, die Gestaltung, Bewertung und Wahrnehmung der außerschulischen Freizeitressourcen von G8- und G9-Schülerinnen und Schülern in Nordrhein-Westfalen aus Gymnasien, die am Schulversuch „Abitur an Gymnasien nach 12 oder 13 Jahren“ teilgenommen haben.
In der Einleitung greifen die Autorinnen die in der gesellschaftspolitischen Debatte insbesondere in den alten Bundesländern wiederholt geäußerte Kritik auf, dass sich durch die Schulzeitverkürzung und die damit einhergehende Erhöhung der Schülerwochenstunden die psychosoziale Situation der G8-Schülerinnen und Schüler verschlechtern würde: mehr Stress, weniger Freizeit, gesundheitliche Belastungen und demzufolge weniger Lebensqualität. Blumentritt et al. (2014) stellen jedoch fest, dass zum Zeitpunkt der Abfassung ihres Beitrags kaum wissenschaftlichen Studien zur außerschulischen Freizeit der Schülerinnen und Schüler vorliegen.
Im darauffolgenden Kapitel definieren sie zunächst das Zielkonstrukt Freizeit, da in der Literatur diesbezüglich verschiedene Konzeptualisierungen, Bezugstheorien und methodische Herangehensweisen existieren. Die Autorinnen verwenden in ihrem Beitrag den Terminus außerschulische Freizeit und grenzen diesen vom Zeitraum Schule ab. Außerdem erläutern sie, dass sie im weiteren Verlauf zwischen strukturierter (d. h. institutionalisiert und von außen gesteuert, z. B. durch die Familie, und ggf. terminlich fixiert) und unstrukturierter außerschulischer Freizeit unterscheiden. Danach referieren sie den aktuellen Forschungsstand und stellen fest, dass die bisherigen Befunde nicht eindeutig und teilweise widersprüchlich sind. Vor diesem Hintergrund beziehen sie sich auf das Ziel, im Rahmen des nordrhein-westfälischen Schulversuchs „Abitur an Gymnasien nach 12 oder 13 Jahren“, der eine partielle Rückkehr zu G9 ermöglicht und wissenschaftlich begleitet wird (im Folgenden G9-neu), die Freizeitressourcen von G8- und G9-neu-Schülerinnen und Schülern vertiefend zu untersuchen. Ihre Fragestellungen lauten:
Stichprobe: Zur Beantwortung der o.g. Fragestellungen haben die Autorinnen Datenmaterial von 1.055 Schülerinnen und Schülern ausgewertet. Dabei handelt es sich um 534 Schülerinnen und Schüler des 6. Jahrgangs im letzten reinen G8-Bildungsgang vor der Umstellung der Schulen des Schulversuchs (n=13) auf G9-neu-Bildungsangebote und 521 Schülerinnen und Schüler der ersten sechsten Jahrgangsstufe der Modellgymnasien im G9-neu-Bildungsgang.
Untersuchungsablauf: Die Daten wurden mithilfe eines Fragebogens erhoben, der papierbasiert und als Online-Version ausgefüllt werden konnte. Es wurden außerschulische Freizeitaktivitäten (unterteilt in strukturierte und unstrukturierte Aktivitäten) sowie deren Bewertung und Wahrnehmung erfasst. Hierzu wurden eigenentwickelte Items eingesetzt. Zudem wurden mit Hilfe etablierter Instrumente die wahrgenommene Belastung und die mit der Schule in Verbindung stehenden psychosomatischen Beschwerden sowie Beanspruchungsgefühle abgefragt. Die 20 Gruppendiskussionen wurden an den zwei Modell-Gymnasien mit parallelem G8/G9-neu-Bildungsgang durchgeführt. Im Rahmen dieser wurden Schülerinnen und Schüler befragt, die vorher auch an der standardisierten Befragung teilgenommen hatten. Im Fokus der Diskussionen stand die Wahrnehmung der Differenz zwischen den Bildungsgängen G8 und G9-neu.
Analysen: Die Autorinnen benutzen für die Beantwortung ihrer Forschungsfragen neben dem Bericht deskriptiver Kennwerte t-Tests. Zur Auswertung der Gruppendiskussionen kommt die Dokumentarische Methode zum Einsatz.
Hinsichtlich des Umfangs außerschulischer Freizeit zeigen sich keine Unterschiede zwischen den beiden Schülergruppen. Es stehen für die Schülerinnen und Schüler beider Bildungsgänge durchschnittlich 6,5 Stunden Freizeit zur Verfügung. Aus den Gruppendiskussionen wird deutlich, dass bei der G8-Gruppe eine Diskrepanz zwischen erwarteter und tatsächlicher Effizienz der Nutzung der schulischen Bildungszeit wahrgenommen wird. Obwohl die G8-Schülerinnen und Schüler mehr Unterricht haben, sind die G9-Schülerinnen und Schüler mit dem Lernstoff weiter. Außerdem berichten Schülerinnen und Schüler im G9-neu-Bildungsgang im Zusammenhang mit der tatsächlichen Ausgestaltung der Zeitumfänge über mehr strukturierte Freizeitaktivitäten. Diejenigen aus dem G8-Bildungsgang weisen größere Zeitumfänge für unstrukturierte Freizeitaktivitäten auf (z.B. Freunde treffen). Schülerinnen und Schüler aus dem G8-Bildungsgang berichten über stärkere Beanspruchungsgefühle und weniger Termine im Kontext strukturierter Freizeitaktivitäten. Weiterhin bewerten beide Gruppen die außerschulische Freizeit als positiv und ausreichend: ihnen bleibt genug Zeit, individuellen Interessen nachzugehen, sich mit Peers zu treffen und sich zu erholen.
Zum Hintergrund: Die Studie von Blumentritt et al. (2014) greift ein für die Schule und Administration relevantes Forschungsdesiderat auf. Es werden der Umfang, die Gestaltung, Bewertung und Wahrnehmung der Freizeitressourcen von Schülerinnen und Schüler des sechsten Jahrgangs aus dem acht- und neunjährigen Bildungsgang (G8-neu) von Gymnasien in Nordrhein-Westfalen untersucht, die am Schulversuch „Abitur an Gymnasien nach 12 oder 13 Jahren“ teilgenommen haben.
Die Autorinnen beziehen sich bei der Herausstellung der Relevanz ihrer Untersuchung auf die gesellschaftspolitische Debatte zu den Wirkungen der gymnasialen Schulzeitverkürzung auf die psychosoziale Situation der betroffenen Schülerinnen und Schüler. Sie begründen ihr Vorhaben weiterhin mit der zum Zeitpunkt der Durchführung ihrer Studie nur marginalen sowie teilweise widersprüchlichen Befundlage zu diesem Diskursaspekt. Anschließend erläutern sie ihr Verständnis des Zielkonstrukts Freizeit, referieren den allgemeinen Forschungsstand und leiten daraus die Zielstellung ihrer Studie ab. Die Argumentationsweise sowie die Diskursbezüge sind stringent und überzeugend.
Zum Design: Das Studiendesign und die Durchführung werden detailliert und gut nachvollziehbar benannt. Die Ausführungen zu den Gruppendiskussionen lassen jedoch nicht erkennen, nach wel-chen Kriterien eine maximale Kontrastierung anvisiert wurde und wie viele Schülerinnen und Schüler insgesamt an den Diskussionen teilnahmen. Die Vorgehensweise bei der statistischen Datenanalyse wird angemessen berichtet. Sie erscheint für Gruppenvergleiche und die Skalenniveaus der Items sachgerecht angelegt und wird im Hinblick auf die Identifizierung von mit der Schulzeitverkürzung zusammenhängenden Unterschieden zu den betrachteten freizeitbezogenen Aspekten nachvollziehbar begründet (zu den methodischen Einschränkungen siehe nächster Absatz). Erläuterungen zur genauen Vorgehensweise bei der dokumentarischen Textinterpretation der Gruppendiskussionen fehlen (Nennung der einzelnen Schritte und Anlage von Gütekriterien), wenngleich im Beitrag auf die in diesem Zusammenhang übliche Grundlagenliteratur verwiesen wird. Der Leserschaft ist somit kein direkter Nachvollzug der Vorgehensweise möglich (wenngleich aus dem exemplarisch vorgestellten Interviewmaterial im Ergebnisteil geschlossen werden kann, dass mindestens die ersten beiden Schritte der dokumentarischen Methode durchlaufen wurden. Inwiefern die beiden nächsten Schritte der Fallbeschreibung und der Typenbildung, dem eigentlichen Ziel dieser Methode, zukünftig vor-genommen werden sollen, bleibt offen). Die Auswahl der Interviewpartner wird nachvollziehbar und begründet dargelegt (theoretisches Sampling und Kontrastierung).
Zu den Ergebnissen: Die Zielstellung der Untersuchung wird erreicht und die vorgenommenen Schlussfolgerungen erscheinen plausibel. Es liegen auf der Grundlage der Selbstberichte für beide Schülergruppen ähnlich verfügbare Zeitressourcen vor, die aber von diesen je nach besuchtem Bildungsgang unterschiedlich ausgestaltet und mit differenten Schwerpunkten versehen sind. Inwiefern diese auf den Bildungsgang zurückführbar sind, bleibt aber aufgrund des Studiendesigns offen, welches lediglich die Analyse von Zusammenhängen ermöglicht. Die Autorinnen merken an, dass durch die Selbstberichte der Schülerinnen und Schüler aus der Retroperspektive auch nicht alle Beschäftigungen exakt erfasst werden konnten und damit Verzerrungen zu den tatsächlichen Freizeitaktivitäten nicht auszuschließen sind. Weiterhin berichten sie, dass ihre Stichprobe nicht frei von Klumpeneffekten ist und eine längsschnittliche Betrachtung über mehrere Jahrgänge erforderlich sei, um die vorliegenden Ergebnisse zu validieren sowie näherungsweise einen kausalen Effekt des besuchten Bildungsgangs auf die Freizeitressourcen feststellen zu können. Die Autorinnen vermuten weiterhin, dass zwischen den Vergleichsgruppen systematische Unterschiede vorliegen könnten (z.B. Unterschiedlichkeit hinsichtlich der Gymnasialempfehlung), die in ihrer Analyse nicht kontrolliert werden konnten. Diese sind auch vor dem Hintergrund des zeitlichen Versatzes von einem Jahr anzunehmen. Aus Sicht des Rezensenten wäre es vor diesem Hintergrund zudem wünschenswert gewesen, bei den Analysen die soziodemographischen Hintergrundmerkmale (z.B. Bildungshintergrund, Ethnie) zu kontrollieren.
Kultusministerium BW
Schulentwicklung NRW
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