Fragestellungen der Studie:

  • Lernen (impulsive) Schülerinnen und Schüler besser, wenn sie näher bei der Lehrkraft sitzen?

Rezension zur Studie

Blume, F., Göllner, R., Moeller, K., Dresler, T., Ehlis, A.-C. & Gawrilow, C. (2019). Do students learn better when seated close to the teacher? A virtual classroom study considering individual levels of inattention and hyperactivity-impulsivity. Learning and Instruction, 61, 138–147.

Blume et al. nehmen in ihrem Beitrag Schülerinnen und Schüler 5. und 6. Klassen in den Blick, die unter ADHS-Symptomen leiden. Ihr Interesse gilt dem Zusammenhang zwischen einer Sitzposition nahe der Lehrkraft und dem Lernergebnis der Schülerinnen und Schüler. In einem Experiment, bei dem ein virtueller Klassenraum zum Einsatz kam, wurden die Lernenden zufällig in unterschiedlicher Entfernung zur Lehrkraft positioniert, während ihnen ein Lösungsweg für eine mathematische Aufgabe erklärt wurde. Danach lösten sie Aufgaben dieses Typs. Die benötigte Zeitdauer, bis sie zum Ergebnis kommen, und ihre Ergebnisse wurden gemessen.

Die Autorinnen und Autoren gingen dabei folgenden Forschungsfragen nach:

  1. Verbessern sich die Lernergebnisse von Schülerinnen und Schülern, wenn sie in der Nähe der Lehrkraft sitzen?
  2. Beeinträchtigen ADHS-Symptome das Lernen von Schülerinnen und Schülern?
  3. Profitieren Schülerinnen und Schüler mit besonders stark ausgeprägten ADHS-Symptomen in besonderer Weise von einer Sitzposition in der Nähe der Lehrkraft?

Insgesamt zeigt sich bei allen Schülerinnen und Schülern ein besseres Lernergebnis, wenn sie näher bei der Lehrkraft sitzen. Das Lernergebnis wird von ADHS-Symptomen beeinträchtigt, wobei stärkere Symptome ein schlechteres Ergebnis nach sich ziehen. Allerdings profitieren in dieser Studie die Lernenden mit einer besonders stark ausgeprägten ADHS-Symptomatik nicht besonders stark von der Nähe zur Lehrkraft; hier zeigen sich lediglich Tendenzen in Bezug auf größere Lerneinbußen, je weiter Schülerinnen und Schüler mit ADHS-Symptomen von der Lehrkraft entfernt sitzen.

Die Studie macht die Bedeutung der Sitzordnung deutlich und bietet so Lehrkräften Anhaltspunkte, ihr eigenes Handeln zu überdenken. Die Sitzposition einzelner Lernender beeinflusst nicht nur das soziale Miteinander in der Klasse – ein Aspekt, der bei den Entscheidungen von Lehrkräften in der Praxis wohl häufig im Vordergrund steht –, sondern auch den Lernerfolg der Lernenden.

Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.

Reflexionsfragen für Lehrkräfte

  • Welche subjektiven Theorien habe ich in Bezug auf die Förderung von Kindern mit ADHS? Inwiefern sind diese empirisch abgesichert?
  • Auf Grundlage welcher Überlegungen treffe ich Entscheidungen zur Sitzordnung?
  • Was tue ich, um Sitzpositionen in der Klasse „gerecht“ zu vergeben?

Reflexionsfragen für Schulleitungen

  • Welche Leitlinien bestimmen den Umgang mit Kindern mit ADHS-Symptomen in meiner Schule?
  • Wie sorge ich dafür, dass das Kollegium im Umgang mit dieser Problematik fortgebildet ist und unterstützt wird?
  • Welchen Stellenwert hat ein stringentes Classroom Management in meiner Schule?

Die Autorinnen und Autoren greifen für ihre Studie einerseits auf Forschungsergebnisse zur ADHS-Problematik zurück. So ist belegt, dass ADHS-Symptome die Aufmerksamkeit beeinträchtigen, und es wurde gezeigt, dass diese häufig zu schlechteren Schulleistungen, mehr Klassenwiederholungen oder auch einem Verlassen der Schule ohne Bildungsabschluss führen können (Blume et al., 2019, S. 139).

Andererseits ziehen Blume et al. Studien heran, die die Bedeutung von Sitzordnungen als ein Instrument des Classroom-Managements zeigen. So seien Sitzordnungen mit Gruppentischen geeignet, die Kooperation zwischen den Lernenden zu fördern, während eine Anordnung in Reihen die Fokussierung auf individuelle Aufgaben unterstütze (Wannarka & Ruhl, 2008). Des Weiteren gibt es Hinweise darauf, dass die Sitzposition in der Klasse Einfluss auf die schulischen Leistungen hat (Blume et al., 2019, S. 142).

Keine Studien existieren laut den Autorinnen und Autoren zu der Frage, ob Kinder mit ADHS oder mit Problemen in Bezug auf Aufmerksamkeit und Impulskontrolle im Allgemeinen von einer Sitzposition nahe bei der Lehrperson profitieren – eine Maßnahme, die gleichwohl oft empfohlen und von Lehrkräften oft ergriffen wird (Blume et al., 2019, S. 139).

Der Studie liegt ein Laborexperiment zugrunde, bei dem 81 Schülerinnen und Schüler jeweils einzeln in einem virtuellen Klassenraum eine Instruktion zu einer Mathematikaufgabe erhielten und im Anschluss an einem Computer eigenständig 200 Aufgaben dieses Typs lösen mussten.

Die Aufgabe bestand darin, bei einem Zahlen-Triplet (z. B. 24_27_30) zu bestimmen, ob die mittlere Zahl das arithmetische Mittel darstellt. Den Kindern wurden zunächst die Aufgabe an sich und die mathematischen Verhältnisse dahinter erklärt und dann eine Strategie, mit der sich die Aufgabe schneller lösen lässt. Sie sollten zuerst schauen, ob die äußeren Zahlen des Triplets die gleiche Parität – d. h. beide gerade oder beide ungerade – aufwiesen, denn nur, wenn das der Fall ist, kann die mittlere Zahl das arithmetische Mittel sein. Da diese Strategie nicht unbedingt zu mehr richtigen Lösungen führt, aber insgesamt die Geschwindigkeit der Antworten beschleunigen sollte, wurde diese Reaktionszeit als Maßzahl für den Lernerfolg genutzt.

Eine weitere Strategie, nämlich zu schauen, ob alle drei Zahlen aus einer Multiplikationsreihe stammen (z. B. 18_24_30), wurde den Kindern nicht erklärt. Diese Strategie kann ebenfalls dazu beitragen, Aufgaben schneller zu lösen. Dadurch, dass diese Unterstützung nicht gegeben wurde, konnten die Forschenden bei der Auswertung unterscheiden, ob schnellere Reaktionszeiten auf die Instruktion zurückzuführen waren oder ob beispielsweise der Bezug zur Multiplikationsreihe für schnellere Antworten verantwortlich war.

Die Frage, ob die Lernenden die unterrichtete Strategie gelernt hatten, wurde als der Unterschied in der Reaktionszeit operationalisiert zwischen Aufgaben, bei denen mit „nein“ geantwortet werden musste, obwohl die äußeren Zahlen des Triplets die gleiche Parität hatten und solchen, bei denen mit „nein“ geantwortet werden musste, weil sie eine unterschiedliche Parität hatten. Des Weiteren wurde die Frage, ob die Lernenden die nützliche, aber nicht gelehrte Strategie der Multiplikationsreihe anwendeten, operationalisiert als der Unterschied in der Reaktionszeit zwischen Aufgaben, die mit „ja“ beantwortet werden mussten und bei denen alle drei Zahlen einer Multiplikationsreihe entstammten und solchen, die bei denen die Zahlen nicht zu einer Reihe gehörten.

Die Probandinnen und Probanden hatten sich freiwillig für das Experiment gemeldet, nachdem die Forschenden Schulen angeschrieben hatten. Sie stammten dementsprechend aus verschiedenen Schulen (davon 75 von Gymnasien) und besuchten die 5. oder 6. Klasse. Von den 81 Teilnehmenden waren 35 Mädchen, 71 sprachen Deutsch als Muttersprache. Ihre Schulnoten in Deutsch und Mathematik deckten das Notenspektrum zwischen 1 und 5 ab, mit einem Mittelwert von M = 2.02 in Mathematik und M = 2.28 in Deutsch.

Die Intensität der ADHS-Symptome wurde anhand des standardisierten Fragebogen Conners 3 erhoben, der jeweils von einem Elternteil der Kinder zu den Symptomen derselben ausgefüllt wurde. Auf der vierstufigen Skala dieses Untersuchungstools zwischen 0 (gar nicht/niemals/selten) und 4 (besonders/sehr oft) erreichten die Kinder der Stichprobe einen Mittelwert von M = 0.76 mit einer Standardabweichung von SD = 0.52. Die Forschenden konstatieren: „Hence, the recruited sample covers a wide range from low to high intensity of ADHD symptoms“ (ebd., S. 140).

Um die Lernergebnisse in einer nahe bei oder weit von der Lehrperson entfernten Sitzposition zu vergleichen und um zu beurteilen, ob ADHS-Symptome das Erlernen der gelehrten und ungelehrten Lösungsstrategien voraussagten, wurden multiple lineare Regressionsanalysen mit Sitzplatz und ADHS-Symptomen als unabhängige Variablen und den gelehrten und nicht gelehrten Strategien als abhängige Variablen durchgeführt. Außerdem wurden Moderationsanalysen durchgeführt, um zu prüfen, ob die Sitzposition den Zusammenhang zwischen ADHS-Symptomen und Lernen moderiert.

Die Sitzposition im Klassenraum beeinflusst die Lernergebnisse statistisch signifikant. Bei den Lernenden, die nahe bei der Lehrkraft sitzen, ist der Unterschied in der Reaktionszeit zwischen den Aufgaben, bei denen die Anwendung der Parität-Strategie sinnvoll ist, und denen, bei denen das nicht der Fall ist (s. Design), signifikant größer als bei denen, die hinten im Klassenraum sitzen Mproximal = 338 ms (SD = 358) im Vergleich zu Mdistant = 198 ms (SD = 325). Bei den Aufgaben, bei denen die Anwendung der nichtgelehrten Strategie (Multiplikationsreihe) ein schnelleres Ergebnis gebracht hätte, zeigt sich kein Einfluss der Sitzposition.

Das Vorhandensein von ADHS-Symptomen steht in einem negativen Zusammenhang mit den Lernergebnissen. Kinder mit starken Symptomen profitieren weniger von der unterrichteten Strategie. Damit in Einklang steht das Ergebnis, dass sich ein solcher Zusammenhang nicht bei der nicht unterrichteten Strategie zeigt.

Keine Bestätigung findet die These, dass die Sitzposition in der Klasse die Rolle eines Moderators zwischen den ADHS-Symptomen und dem Lernerfolg der Kinder hat. Nur in der deskriptiven Auswertung deutet sich an, dass Lernende, je intensivere ADHS-Symptome sie haben, umso weniger lernen, wenn sie weiter entfernt von der Lehrperson sitzen. Die Moderatoranalysen (s. o.) kommen nicht zu einem solchen Ergebnis.

Hintergrund

Die Studie knüpft an vielfältige Forschungsergebnisse aus den Bereichen des Classroom Management an, wenn sie eine solche alltägliche und von Lehrkräften oft intuitiv vorgenommene Maßnahme wie die Sitzposition eines Schülers oder einer Schülerin in den Blick nimmt. Dabei stellt sie zunächst klar, dass die Sitzposition eine wichtige Bedeutung für den Lernerfolg hat. Sie richtet dann den Fokus auf Lernende mit einer ADHS-Symptomatik, betont deren im Durchschnitt geringere schulische Leistungen und fragt nach ihren besonderen Bedürfnissen. Die Bedeutung der Frage, wo im Raum diese Lernenden sitzen, wird in dieser Studie näher beleuchtet.

Design

Mit der Nutzung eines virtuellen Klassenraums in der Instruktionsphase wird in der Studie ein in der pädagogisch-psychologischen Forschung beliebtes Design aufgegriffen. Forschungsmethodisch ist deshalb ein wichtiges Ergebnis, dass die „results from a virtual math lesson are in accordance with prior research conducted in real-life classrooms“ (Blume et al. 2019, S. 164). Die Forschenden sehen aber Entwicklungsbedarf bei der Erstellung realitätsnäherer virtueller Umgebungen.

Eindrucksvoll ist auch, wie versucht wird, den Lernerfolg möglichst valide, reliabel und objektiv zu erheben. So wird eine mathematische Aufgabe für die Untersuchung genommen, die im Lehrplan nicht vorgesehen ist, und die Anwendung der gelernten Strategie durch die Reaktionszeit operationalisiert.

Ergebnisse

Insgesamt zeigt das Experiment, dass Schülerinnen und Schüler ein besseres Lernergebnis erzielen, wenn sie näher bei der Lehrkraft sitzen. Dieses Lernergebnis wird von ADHS-Symptomen beeinträchtigt, wobei stärkere Symptome ein schlechteres Ergebnis nach sich ziehen. Allerdings profitieren die Lernenden mit einer besonders stark ausgeprägten ADHS-Symptomatik nicht sehr stark von der Nähe zur Lehrkraft.

Die Forschenden ziehen daraus den Schluss, dass die Sitzordnung in Klassenräumen und die Nähe zu der Lehrkraft von den Lehrkräften gründlich überlegt sein sollte. Da nicht alle Lernenden vorne sitzen können, ist zu überlegen, wie möglichst viele Schülerinnen und Schüler von der Nähe zur Lehrkraft profitieren können. Da virtuelle Klassenräume diesbezüglich mehr Möglichkeiten haben, können diese nach Ansicht der Autorinnen und Autoren „be used to support learning in real-life classrooms or replace real-life classrooms when children cannot visit school regularly due to living in remote locations or being in hospital, for instance” (ebd., S. 145).

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Diese Rezension wurde erstellt von:
Dr. Sonja Hensel, Lehrerin am Berufskolleg in Siegburg sowie Lehrbeauftragte an der Universität Siegen. Arbeitsschwerpunkte: Rechtschreib-, Schreib- und Lesedidaktik, selbstreguliertes und kooperatives Lernen.

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