Fragestellungen der Studie:

  • Welchen Einfluss hat eine andere Erstsprache auf die deutsche Orthografie von Schülerinnen und Schüler mit Deutsch als Zweitsprache?

Rezension zur Studie

Müller, H. & Schroeder, C. (2022). Zum Einfluss der Erstsprache auf orthografische Kompetenzen in Deutsch als Zweitsprache. Eine vergleichende Analyse. In K. Nimz, K. Schmidt & C. Noack (Hrsg.), Mehrsprachigkeit und Orthographie. Empirische Studien an der Schnittstelle zwischen Linguistik und Erziehungswissenschaft (S. 51–73). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.

Hans-Georg Müller und Christoph Schroeder untersuchen in ihrer Studie den Einfluss, den eine andere Erstsprache – hier Russisch und Türkisch – auf die orthografischen Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 10 und 18 Jahren hat. Sie analysieren dazu Daten des Internetportals orthografietrainer.net, auf der Lernende Aufgaben zu allen Bereichen der Rechtschreibung bearbeiten können. Für die Beantwortung ihrer Forschungsfragen ziehen die Forschenden zum einen die Ergebnisse angemeldeter Nutzerinnen und Nutzer heran, zum anderen die von diesen angegebenen Metadaten beispielsweise zu Alter, Geschlecht, Erstsprache etc.

Dabei geht es konkret um zwei Forschungsfragen:

1. Lassen sich signifikante Unterschiede finden in den orthografischen Kompetenzen von Kindern, die monolingual deutsch, bilingual deutsch-türkisch oder bilingual deutsch-russisch aufwachsen?

2. Lassen sich mögliche Unterschiede im Fall der bilingualen Schülerinnen und Schüler auf phonologische Unterschiede zwischen den Erstsprachen und Deutsch zurückführen?

Die Studie zeigt, dass sich signifikante Unterschiede in den orthografischen Kompetenzen finden lassen. So zeigen die bilingualen Schülerinnen und Schüler insgesamt eine geringer ausgeprägte Rechtschreibkompetenz. Die Unterschiede bestehen in den Bereichen Groß- und Kleinschreibung, Getrennt- und Zusammenschreibung und – in besonderem Maße – bei Aufgaben, bei denen die Vokalqualität eine Rolle spielt. Dieses Ergebnis korrespondiert damit, dass es erhebliche Unterschiede im Vokalsystem des Deutschen auf der einen und des Russischen und Türkischen auf der anderen Seite gibt. So kennt das Deutsche mehr Monophthonge und auch Diphthonge, die in den beiden anderen Sprachen nicht vorkommen. Besonders die Unterscheidung zwischen gespannten und ungespannten Vokalen ist in den anderen Sprachen so nicht vorhanden. Daher schlussfolgern die Forscher, dass sich die gefundenen Unterschiede auf die phonologischen Unterschiede zwischen den betrachteten Sprachen zurückführen lassen.

Das Ergebnis der Studie ist für den Rechtschreibunterricht in der Grundschule und der Sekundarstufe I sehr relevant. Es betont die Notwendigkeit, beim Schriftspracherwerb individuell auf die Lernvoraussetzungen und Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler zu schauen. Außerdem schließt es an Befunde an, die die Bedeutung der phonologischen Bewusstheit für den Rechtschreiberwerb betonen und damit die Notwendigkeit einer frühen Sprachförderung.

Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.

Reflexionsfragen für Lehrkräfte

  • Wie beziehe ich die Erstsprachen meiner Schülerinnen und Schüler bei der Förderung ihrer orthografischen Kompetenzen ein?
  • Welches sind die Fehlerschwerpunkte meiner Schülerinnen und Schüler und welchen Stellenwert haben diese bei der Planung meines Orthografieunterrichts?
  • Welche gezielten Übungen kann ich in meinen Unterricht einbringen, um meine Schülerinnen und Schüler im Bereich der Laut-Buchstaben-Zuordnung zu unterstützen?

Reflexionsfragen für Schulleitungen

  • Welche Rolle spielen an unserer Schule die Erstsprachen der Schülerinnen und Schüler?
  • Wie werden diese gezielt bei der Förderung sprachlicher Kompetenzen mit herangezogen?

Die Studie stützt sich zum Ersten auf sprachwissenschaftliche Erkenntnisse zu phonologischen Merkmalen des Deutschen, Russischen und Türkischen. Die Autoren arbeiten heraus, dass die deutsche Sprache von allen drei Sprachen das komplexeste System der Vokalqualitäten hat, da sie über 16 Monophthonge und drei Diphthonge verfügt, von denen Erstere in zwei Klassen unterteilt werden können: gespannte und ungespannte Vokale. Für die Kennzeichnung der Vokalqualität gibt es in der deutschen Orthografie verschiedene Möglichkeiten, wie die Verdopplung von Vokalgraphemen, das Einfügen eines Buchstaben („e“ oder „h“) oder die Verdopplung eines Konsonantengraphems.

Das Russische und das Türkische verfügen über wesentlich weniger Vokalphoneme und keine Diphthonge. Außerdem nutzen sie die Unterscheidung zwischen gespannten und ungespannten Vokalen nicht.

Zum Zweiten knüpft die Untersuchung an Studien an, die untersucht haben, welchen Einfluss Lautkontraste in der Erst- und Zweitsprache auf die Wahrnehmung von Lauten und die Fähigkeit zur Diskriminierung derselben haben. Sie führen mehrere Studien an, die den Schluss nahelegen, dass Unterschiede in den Lautsystemen zwischen Erst- und Zweitsprache die Fähigkeit zur Perzeption beeinflussen. Personen mit einer anderen Erstsprache zeigten oftmals schlechtere Ergebnisse bei der Perzeption von Lauten, die es nur in der Zweit- und nicht in der Erstsprache gibt. In Bezug auf die Vokale im Deutschen betreffe dies zum Beispiel den Unterschied zwischen gespanntem und ungespanntem „i“ (vgl. Darcy & Krüger, 2012).

Die dritte theoretische Säule stellt die Forschung zum Schriftspracherwerb in der Zweitsprache dar. Hier liegen – abgesehen von der Tatsache, dass Kinder mit einer anderen Erstsprache als Deutsch in den meisten Studien durch einen höheren Fehlerquotienten auffallen als die monolingualen Kinder – sehr divergente Ergebnisse vor. Die Mehrzahl davon findet bei den bilingualen Schülerinnen und Schülern sowohl bei den phonematischen als auch bei den orthografischen Schreibungen größere Probleme (vgl.  Becker, 2011; Fix, 2002). Einzelne Studien finden aber auch größere Kompetenzen bei den zweisprachigen Lernerinnen und Lernern (Bulut, 2018).

Für die Studie wurden Daten orthografischer Leistung von angemeldeten Nutzerinnen und Nutzern der Internetseite orthografietrainer.net erhoben. Diese wurden mit Hilfe von generalisierten Mischmodellen (GLMM) analysiert, um den Einfluss der Erstsprache auf die orthografischen Kompetenzen zu ermitteln.

Genutzt wurden die Datensätze von 809 angemeldeten Nutzerinnen und Nutzern, „die sowohl eine hinreichende Anzahl an Übungsaufgaben absolviert als auch freiwillige Angaben zu ihrer Person“ (Müller & Schroeder, S. 59), wie zum Beispiel Geschlecht, Alter, als Kind zuerst gesprochene Sprache etc., gemacht haben. Davon gaben 182 Personen an, Türkisch als erste Sprache gelernt zu haben, 157 Russisch. Der Rest war monolingual deutsch aufgewachsen. Eine nähere Beschreibung der Stichprobe, wie Aufteilung auf Schularten, Alters-, Geschlechterverteilung, familiärer Hintergrund der Probandinnen und Probanden, wird von Müller und Schroeder nicht geliefert.

Die auf der Lernplattform von den Lernenden erzielten richtigen und falschen Lösungen wurden nach Maßgabe der Item-Response-Theorie skaliert, wobei ein Rasch-Modell eingesetzt wurde (Conquest 2.0). Auf diese Weise wurden für jede Versuchsperson vier Kompetenzparameter geschätzt – je einer für die Bereiche Groß- und Kleinschreibung, Getrennt- und Zusammenschreibung, Laut-Buchstaben-Zuordnung mit und Laut-Buchstaben-Zuordnung ohne Berücksichtigung der Vokalqualität. Die Autoren verzichten auf die Angabe von Details zu den Skalen und machen keine Angaben zu den Gütekriterien der Leistungsmessung (Reliabilitäts-, Validitätsmaße).

Der Einfluss der Erstsprache auf die vier Kompetenzbereiche wurde im Folgenden mit Hilfe von generalisierten linearen Mischmodellen (GLMM) analysiert. Mit diesem Verfahren kann der Einfluss anderer Variablen kontrolliert werden. Als durchgängig signifikant erweisen sich diesbezüglich die Merkmale Klassenstufe, Geschlecht, Bundesland/Kanton (gruppiert), Schulart (gruppiert) und Selbsteinschätzungen zum Lesen bzw. Schreiben („tue ich gern“ bzw. „fällt mir leicht“), die jeweils einen „erwartbaren Einfluss“ auf die orthografischen Kompetenzen zeigen. Die korrelativen Zusammenhänge dieser Kontrollvariablen sowie Skalenstatistiken zu den Selbsteinschätzungen werden allerdings nicht berichtet.

Müller und Schroeder finden erwartbare statistisch signifikante Zusammenhänge zwischen der Klassenstufe, dem Geschlecht, der Schulart und der eigenen Einschätzung, ob der Person das Lesen leichtfällt, und ihren orthografischen Kompetenzen. Sie finden solche Zusammenhänge auch zu der Erstsprache der Schülerinnen und Schüler. In drei der vier untersuchten Bereiche schneiden die monolingualen Kinder besser ab als die Referenzgruppe der türkischsprachigen bilingualen Kinder: Aufgaben zur Laut-Buchstabenzuordnung mit Berücksichtigung der Vokalqualität (β = .32); Aufgaben zur Groß- und Kleinschreibung (β =.26); Aufgaben zur Getrennt- und Zusammenschreibung (β = .28). Die Zusammenhänge in den beiden zuletzt genannten Bereichen fallen somit schwächer aus als die im Bereich der Laut-Buchstabenzuordnung mit Berücksichtigung der Vokalqualität. Für die Aufgaben im Bereich der Laut-Buchstaben-Zuordnung zur normrichtigen Konsonantenschreibung, die nichts mit der Vokalqualität zu tun haben, lassen sich keine Zusammenhänge der Erstsprache mit der orthografischen Kompetenz nachweisen.

Die Autoren interpretieren diese divergenten Ergebnisse so, dass vermutlich die unterschiedlichen Vokalsysteme der Erstsprachen Türkisch und Russisch einen Einfluss auf den Aufbau der Rechtschreibkompetenz der bilingualen Kinder und Jugendlichen haben, da die Erstsprache in den anderen Bereichen keinen so starken oder auch gar keinen Einfluss auf die orthografischen Kompetenzen hat. Der gängige Befund, dass bilinguale Lernende generell schwächere Rechtschreibkompetenzen haben, wird durch diese Ergebnisse relativiert, da sich hier zum einen ein Bereich abzeichnet, in dem die Differenz zu den monolingualen Lernenden besonders groß ist, und da es zum anderen Bereiche gibt, in denen die Erstsprache einen geringeren Unterschied (Groß-, Kleinschreibung; Getrennt- und Zusammenschreibung) beziehungsweise gar keinen Unterschied (Laut-Buchstaben-Zuordnung ohne Vokalqualität) macht.

Hintergrund
Die Autoren geben einen knappen, aber informativen Einblick in die unterschiedlichen Vokalsysteme des Deutschen, Türkischen und Russischen, der für Forscherinnen und Forscher, aber auch für Lehrkräfte erhellend ist. Einen guten Überblick gibt auch die Zusammenfassung der Forschung zum Schriftspracherwerb in der Zweitsprache. Hier wird deutlich, wie viel es auf diesem Gebiet noch zu erforschen gibt.

Design
Die Darstellung des Studiendesigns erfolgt sehr knapp. Dadurch sind einige Aspekte nicht wirklich nachvollziehbar. Dazu zählt beispielsweise die Zusammenfassung der Ausprägungen der Variablen „Schulart“ zu vier Gruppen, ohne dass näher benannt wird, welche Schularten die Gruppen enthalten. Auf die Variablen „Ausbildung der Eltern“ und „Bücher im Haushalt“, die ebenfalls erhoben wurden (vgl. S. 59) wird im weiteren Verlauf nicht mehr eingegangen, obwohl diese zum Beispiel in den PISA-Studien in einem engen Verhältnis zur Schulleistung der Kinder stehen. Eine ausführliche deskriptive Beschreibung der Stichprobenmerkmale fehlt ebenso wie die Angabe von Skalenstatistiken, Gütekriterien und Interkorrelationen der erhobenen Merkmale. Deswegen ist letztlich nicht einschätzbar, inwiefern die Ergebnisse valide sind oder durch Stichprobenverzerrungen, unzulängliche Messinstrumente oder methodische Artefakte beispielsweise aufgrund von Kollinearitäten beeinflusst werden.

Ergebnisse
Im Ergebnis weisen monolinguale Kinder vor allem bei Aufgaben der Laut-Buchstaben-Zuordnung mit Berücksichtigung der Vokalqualität höhere Rechtschreibkompetenzen auf als bilinguale Kinder, wohingegen keine Unterschiede zwischen diesen Gruppen bei Aufgaben der Laut-Buchstaben-Zuordnung ohne Vokalqualität bestehen. Müller und Schroeder führen dies auf zwei sich überlagernde Effekte zurück: Während ein multilingualer sprachlicher Hintergrund generell mit geringeren orthografischen Kompetenzen einhergeht, ist er für die Kennzeichnung der Vokalqualität insbesondere dann relevant, wenn die Vokalqualität in der Erstsprache nicht systematisch unterschieden wird.

Das Ergebnis der Studie ist für den Rechtschreibunterricht in der Grundschule und der Sekundarstufe I sehr relevant. Es verweist auf die Notwendigkeit, beim Schriftspracherwerb individuell auf die Lernvoraussetzungen und Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler zu schauen und im Unterricht gegebenenfalls bereichsabhängig sprachstrukturelle Besonderheiten der Erstsprache (z. B. fehlende Differenzierung von gespannten und ungespannten Vokalen) zu berücksichtigen. Außerdem schließt es an Befunde an, die die Bedeutung der phonologischen Bewusstheit für den Rechtschreiberwerb betonen und damit die Notwendigkeit einer frühen Sprachförderung.

Diese Rezension wurde erstellt von:
Dr. Sonja Hensel, Lehrerin am Berufskolleg in Siegburg sowie Lehrbeauftragte an der Universität Siegen. Arbeitsschwerpunkte: Rechtschreib-, Schreib- und Lesedidaktik, selbstreguliertes und kooperatives Lernen.

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