Fragestellungen der Studie:

  • Welcher Zusammenhang besteht zwischen Lesekompetenz und Schreibkompetenz?
  • Welche Rückschlüsse erlaubt die Lesekompetenz auf die Fähigkeit, Texte zu verfassen?

Rezension zur Studie

Klinger, T. , Usanova, I. & Gogolin, I. (2019). Entwicklung rezeptiver und produktiver schriftsprachlicher Fähigkeiten im Deutschen. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft (ZfE), 22(1), 75–103.FIS Bildung

In dem Beitrag wird der Frage nachgegangen, welche Rückschlüsse die Ergebnisse von Lesekompetenztests bei Schülerinnen und Schüler auf deren Schreibkompetenz erlauben. Es geht also um den Zusammenhang zwischen der Entwicklung rezeptiver und produktiver schriftsprachlicher Fähigkeiten. Der Fragestellung liegt die Tatsache zugrunde, dass in standardisierten Schulleistungstests wie PISA oftmals nur Lesekompetenz getestet wird und die Ergebnisse als Indikator für die gesamten rezeptiven und produktiven sprachlichen Fähigkeiten der Probanden gesehen werden.

Für ihre Untersuchung legen Klinger, Usanova und Gogolin eine Teilauswertung von Daten der BMBF-geförderten Panelstudie „Mehrsprachigkeitsentwicklung im Zeitverlauf“ (MEZ) aus den Jahren 2016–2018 mit ca. 2.000 Probandinnen und Probanden zugrunde. Dazu lösten Schülerinnen und Schüler, die zu Beginn der Untersuchung in der 7. bzw. 9. Klasse waren, zu vier Messzeitpunkten je einen Leseverständnistest und eine Schreibaufgabe. Der Lesetest wurde in Bezug auf Lesegeschwindigkeit und Leseverständnis und die Ergebnisse der Schreibaufgabe wurden in Bezug auf die lexikalische Diversität, also die Vielfalt der verwendeten Wörter in den Bereichen Verben und Satzverbindungen, ausgewertet.

Nach der Analyse der Daten sehen die Autorinnen und der Autor ihre Annahme bestätigt, dass eine gemessene Lesekompetenz nur eingeschränkt Rückschlüsse auf die produktiven schriftsprachlichen Fähigkeiten erlaubt. Zwischen beiden Fähigkeiten wurde lediglich ein geringer statistischer Zusammenhang gefunden. Als entscheidender für die Ausprägung der Kompetenzen erwiesen sich exogene Variablen wie die besuchte Schulform, das Geschlecht oder das Vorhandensein einer Zweitsprache. Speziell für die Lesekompetenz erwiesen sich der sozioökonomische Status und die kognitive Kompetenz als beste Prädiktoren.

Für die Schulpraxis sind die Ergebnisse insofern interessant, als sie zur Vorsicht bei der Einschätzung anderer sprachlicher Kompetenzen anhand der Lesefähigkeit mahnen. Es wird gezeigt, dass Lese- und Schreibkompetenzen sich zum Teil durch verschiedene Einflussfaktoren entwickeln, deren Stärke sich dynamisch und unterschiedlich verändert. Relevant ist dies auch, weil im Bereich der Diagnose von Lesekompetenz ein breites Angebot standardisierter Testverfahren zur Verfügung steht, das zwar kostenpflichtig ist, aber dafür mit geringem Aufwand und hoher Validität eingesetzt werden kann. Schreibkompetenz dagegen ist sehr viel schwieriger und aufwendiger zu diagnostizieren. Ein Ersetzen der einen durch die andere Diagnosemaßnahme ist aber nur bedingt möglich.

Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.

Reflexionsfragen für Lehrkräfte

  • Wie komme ich zu meiner Einschätzung bezüglich der Frage, über welche Lese- und Schreibkompetenz meine Schülerinnen und Schüler verfügen?
  • Welche Diagnoseinstrumente setze ich ein?
  • Inwiefern beeinflussen meine Eindrücke aus dem einen Kompetenzbereich meine Einschätzung des anderen?

Reflexionsfragen für Schulleitungen

  • Welche Diagnoseinstrumente werden an der Schule zur Erfassung sprachlicher Kompetenzen eingesetzt?
  • Inwieweit besteht bei Kolleginnen und Kollegen Fortbildungsbedarf zum Umgang mit diagnostischen Instrumenten?
  • Wie kann an der Schule Wissen über Diagnoseinstrumente und die Ergebnisse professionell geteilt und weiterentwickelt werden?

Die Fragestellung der Studie setzt bei der wichtigen Rolle an, die der Sprachkompetenz im Rahmen von Grundbildungskonzepten zugemessen wird. Hierbei stelle sich nämlich die Frage, wie Sprachkompetenz theoretisch zu modellieren sei und empirisch gemessen werden könne. Oftmals werde dazu auf die Untersuchung der Lesekompetenz – operationalisiert als die Fähigkeit, „Texte zu verstehen, zu nutzen, zu bewerten und über sie zu reflektieren sowie bereit zu sein, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, um eigene Ziele zu erreichen, eigenes Wissen und Potenzial zu entwickeln und an der Gesellschaft teilzuhaben“ (OECD, 2019) – zurückgegriffen. Die Lesekompetenz diene somit als Proxy-Variable für die wegen ihrer Komplexität nur begrenzt messbare Sprachkompetenz.

Sprachdidaktiker und Psychologen bezweifeln jedoch, ob eine solche Vereinfachung der Komplexität dieser Kompetenz gerecht wird, ob also Lese- und Schreibkompetenz sich im Gleichschritt entwickeln und aus dem Kompetenzniveau in dem einen Bereich auf das im anderen geschlossen werden kann. Sie setzen dagegen, dass rezeptive und produktive Teilfähigkeiten einzeln untersucht werden müssen, wenn es darum geht, ein umfassendes Bild von den schriftsprachlichen Fähigkeiten der Probandinnen und Probanden – meist Schülerinnen und Schüler – zu erhalten. Sie gehen mit Bezug auf Shanahan (2016, 197) zwar davon aus, dass Lesen und Schreiben sich auf vier gemeinsame Wissensbasen beziehen: „Domain or content knowledge“ (inhaltliches Wissen), „metaknowledge about written language“ (meta[schrift]sprachliches Wissen), „knowledge of text attributes“ (Wissen über Texteigenschaften) und „procedural knowledge“ (prozedurales Wissen). Dieses Wissen werde allerdings für das Lesen und Schreiben in unterschiedlicher Art und Weise genutzt: Während zum Beispiel beim Lesen der Textkontext den Zugriff auf sprachliche Mittel steuere und somit das Verstehen des Textes ermögliche, werde die Wahl der sprachlichen Mittel beim Schreiben aktiv selbst gesteuert. Diese beiden Fähigkeiten könnten unterschiedlich stark oder schwach ausgeprägt sein.

Übereinstimmendes Wissen und übereinstimmende Kompetenzen ständen zwar in beiden Bereichen in einer engen Beziehung zueinander, diese sei allerdings dynamisch und verändere sich in Entwicklungsphasen unterschiedlich, zum Beispiel entwickelten sich schriftsprachliche Fähigkeiten nicht linear. Die zugrunde liegende Annahme der Studie ist also, dass beide Kompetenzen sich wechselseitig beeinflussen, wobei bei der Aneignung komplexer sprachlicher Mittel und dem Erreichen neuer Entwicklungsstufen zunächst von einer Richtung vom Lesen zum Schreiben ausgegangen wird.

An diesem Punkt setzt die Studie an, indem sie untersucht, in welchem Verhältnis bestimmte Teilfähigkeiten des Lesens als rezeptiver Umgang mit Texten und des Schreibens als produktiver Umgang mit Texten stehen. Lesekompetenz wird dabei als Leseverstehen operationalisiert, Schreibkompetenz als lexikalische Diversität, also Vielfalt im gebrauchten Wortschatz.

Die vorgestellten Daten entstammen der BMBF-geförderten Panel-, also Längsschnittstudie „Mehrsprachigkeitsentwicklung im Zeitverlauf (MEZ)“. In dieser Studie wurde die Sprachentwicklung in mehreren Sprachen bei circa 2.000 deutsch-russisch, deutsch-türkisch und monolingual-deutsch aufwachsenden Jugendlichen verschiedener Schulformen aus 78 Schulen in acht Bundesländern über einen Zeitraum von drei Jahren (2016–2018) untersucht. Die Probandinnen und Probanden wurden in zwei etwa gleich große Kohorten aufgeteilt: Die erste Kohorte war zu Beginn der Untersuchungen in Klasse 7, die zweite in Klasse 9. Die Untersuchungen wurden zu jeweils vier Messzeitpunkten vorgenommen, von denen die ersten drei für die zugrunde liegende Publikation ausgewertet wurden.

Getestet wurden jeweils die rezeptiven und produktiven Sprachkompetenzen in Herkunfts- und Fremdsprachen sowie im Deutschen. Für die vorliegende Erhebung wurden nur Sprachdaten im Deutschen verwendet. Zur Untersuchung des Leseverständnisses wurde der standardisierte LGVT 5-12+ (Schneider et al., 2017) eingesetzt, ein Test zur Messung von Lesegeschwindigkeit und Leseverständnis, der in normierter Form für die Klassenstufen 5 bis 12 vorliegt: In einem zusammenhängenden Text werden während einer begrenzten Bearbeitungszeit Textstellen ergänzt, indem aus drei vorgegebenen Wörtern gewählt wird, welches am besten in den Textzusammenhang passt.

Für das Leseverständnis wurde jeweils der Rohwert als einziger Indikator verwendet (für falsche Unterstreichungen wurde die Rate-Wahrscheinlichkeit berücksichtigt) und als Ein-Indikator-Konstrukt modelliert. Die durch Cronbachs Alpha quantifizierte Reliabilität ist an den drei Messzeitpunkten mit 0.82, 0.87 und 0.90 gut.

Bei der Textproduktionsaufgabe wurde im Rahmen einer fiktiven Schreibsituation jeweils anhand von neun Fotografien eine Anleitung zur Produktion eines Gegenstands (z. B. eines Bumerangs) geschrieben. Geschulte Rater werteten anschließend die Texte hinsichtlich ihrer lexikalischen Diversität aus. Dabei wurden hier exemplarisch die Kategorien verbaler Wortschatz und Konnektoren als Indikatoren herangezogen. Es wurde also gezählt, wie viele unterschiedliche Verben bzw. Verbindungswörter zwischen Sätzen benutzt wurden; der Einfluss der Textlänge wurde durch eine Gewichtung entsprechend der Textlänge des ersten Textes individuell korrigiert.

Bei beiden Instrumenten wurden zu den verschiedenen Untersuchungszeitpunkten Parallelversionen eingesetzt, um verzerrende Effekte durch die Erinnerung der Probandinnen und Probanden zu vermeiden.

Des Weiteren wurden Daten zum sozioökonomischen Status („International Socio-Economic Index of Occupational Status“ (ISEI)) und zu den kognitiven Fähigkeiten (KFT 4-12+R figurale Analogien (Heller & Perleth, 2000)) der Schülerinnen und Schüler erhoben. Sie dienten als Kontrollvariablen, um Einflüsse exogener Faktoren auf die sprachlichen Kompetenzen mit zu betrachten und kontrollieren zu können.

Um unterschiedliche Beziehungen der Variablen zu schätzen, wurde anhand von Strukturgleichungsmodellen mit dem Programm MPlus (Muthén & Muthén, 1998–2017) und der Ergänzung kreuzverzögerter gegenseitiger Einflüsse und Kontrolle potenzieller exogener Einflussfaktoren das Verhältnis der exemplarischen Indikatoren für Lese- und Schreibkompetenz ermittelt. Die Kontrollvariablen werden als zeitkonstant angenommen und werden als manifeste Variablen in die Modelle einbezogen.

Messmodell für Schreibfähigkeit

Zunächst wird auf der Grundlage einer dritten, aus den manifesten Indikatoren Wortschatz und Satzverbindungen geschätzten, latenten Variable „lexikalische Diversität“ durch unterschiedliche Schätzmodelle überprüft, ob trotz unterschiedlicher Schreibaufgaben für alle drei Messzeitpunkte das gleiche Konstrukt gemessen wird.

Konfigurale, metrische und skalare Messinvarianz werden anhand zunehmend restriktiver Modellannahmen geschätzt, dazu wird für die konfigurale Messinvarianz ein Baseline-Modell geschätzt, metrische Messinvarianz wird aufgrund des wegen der Größe der Stichprobe mit N = 2068 angewandten deskriptiven Delta CFI (comparative fit index) angenommen, da der Cut-off-Wert mit 0.001 passt. Da die latente Variable „lexikalische Diversität“ zu den ersten beiden Messzeitpunkten eine skalare Messinvarianz aufweist, hier also keine Item-spezifischen Schwierigkeitsunterschiede bestehen (wohl aber gegenüber dem dritten Messzeitpunkt), können diese beiden Mittelwerte miteinander verglichen werden.

Die Überprüfung der drei unterschiedlichen sprachlichen Gruppen führt zu ähnlichen Ergebnissen, so dass für die Gesamtgruppe und für die drei Sprachgruppen eine partiell-skalare Messinvarianz angenommen werden kann.

 

Messmodell für das Leseverständnis

Das Leseverständnis wird nur durch einen einzigen Indikator, den Rohwert aus dem Lesetest LGTV 5-12+, gemessen.

 

Strukturmodell Lesen und Schreiben

Das Verhältnis der schriftsprachlichen Fähigkeiten wird durch ein Strukturmodell ermittelt, das autoregressive und kreuzverzögerte Effekte von Leseverständnis und lexikalischer Diversität für alle drei Erhebungszeitpunkte schätzt. Das Modell erscheint gerade dann passend, wenn nicht nur autoregressive Effekte vom ersten zum zweiten und vom zweiten zum dritten Messzeitpunkt angenommen werden (Markov-Modell erster Ordnung), sondern zudem autoregressive Effekte vom ersten zum dritten Messzeitpunkt.

Die Ergebnisse der Studie weisen darauf hin, dass es einen Zusammenhang zwischen der Lese- und Schreibkompetenz gibt, dass also – mit Bezug auf die Forschungsfrage – grundsätzlich davon ausgegangen werden kann, dass eine Untersuchung der rezeptiven sprachlichen Fähigkeiten auch Hinweise auf die produktiven Fähigkeiten ergibt. Allerdings ist dieser Zusammenhang nur moderat (r = 0.27). Die autoregressiven Effekte zeigen über den gemessenen Zeitraum eine größere Stabilität des Leseverständnisses als der lexikalischen Diversität. Bei den kreuzverzögerten Effekten lässt sich eine eindeutige kausale Richtung bestimmen; das Leseverständnis zeigt eine signifikante Beziehung zur lexikalischen Diversität vom ersten zum zweiten, jedoch nicht zum dritten Messzeitpunkt. Umgekehrte signifikante Effekte der Schreibkompetenz lexikalischer Diversität auf das Leseverständnis zeigen sich nicht.

Bei Berücksichtigung der zeitkonstanten Kontrollvariablen ist sogar nur noch ein geringer Zusammenhang messbar, so dass die Schlussfolgerung gezogen werden kann, dass es weniger die beiden Variablen sind, die sich gegenseitig beeinflussen, als dass vielmehr exogene Faktoren wie der sozioökonomische Status, die kognitiven Fähigkeiten, die besuchte Schulform, das Geschlecht oder die Frage, ob in der Familie eine zweite Sprache gesprochen wird, für die Ausprägung der Lese- und der Schreibkompetenz verantwortlich sind. Alle sieben Variablen beeinflussen besonders das Leseverständnis, aber nur vier von ihnen die lexikalische Diversität.

Es spricht also einiges dafür, nicht allein die Diagnose von Lesekompetenz als Indikator für schriftsprachliche Kompetenzen heranzuziehen. Diese Schlussfolgerung wird durch unterschiedliche Befunde dieser Studie untermauert: Während sich das Leseverständnis der Schülerinnen und Schüler im beobachteten Zeitraum als sehr stabil erwies, traf das für die gemessene Schreibkompetenz in geringerem Maße zu.

Der reziproke Effekt zwischen der Lese- und der Schreibkompetenz, der messbar war, zeigt eine Beeinflussung der lexikalischen Diversität durch das Leseverständnis, aber in umgekehrter Richtung keine wirksamen Effekte. Dieser Befund bestätigt die im Vorfeld der Untersuchung formulierten Annahmen zur Richtung der Effekte zwischen den Variablen.

Für die Schule interessant sind darüber hinaus die Ergebnisse zu den o. g. exogenen Faktoren: Schülerinnen und Schüler, die einen Gymnasialabschluss anstreben, starten bereits zum ersten Messzeitpunkt mit signifikant besseren Testergebnissen in beiden Kompetenzbereichen und vergrößern ihren Vorsprung im Verlauf der Untersuchung. Ebenso vergrößert sich der bestehende Abstand der Mädchen zu den Jungen im Leseverständnis zum dritten Messzeitpunkt noch einmal, und die älteren Schülerinnen und Schüler zeigen zum zweiten Messzeitpunkt deutlichere Fortschritte in ihrer schriftlichen Ausdrucksfähigkeit als die jüngeren. Die bilingualen Schülerinnen und Schüler schneiden in den Leseverständnistests signifikant schlechter ab als die monolingualen – unabhängig davon, ob ihre zweite Sprache Russisch oder Türkisch ist. Bei Ersteren zeigt sich aber der interessante Befund, dass sie sich zwar in der Lese-, nicht jedoch in der Schreibkompetenz von den monolingualen Schülerinnen und Schülern unterscheiden.

Schließlich ist bemerkenswert, dass die produktiven Fähigkeiten sich anscheinend nicht nur unabhängiger von einer vorhandenen Zweisprachigkeit entwickeln; sie hängen darüber hinaus nicht mit den exogenen Variablen sozioökonomischer Status und kognitive Fähigkeiten zusammen. Diese beeinflussen demgegenüber die Lesekompetenz eindeutig.

Das zentrale Erkenntnisinteresse der Studie ist ein forschungsimmanentes. Hinterfragt wird die Praxis, in großen quantitativen Studien ebenso wie in der schulischen Diagnostik schriftsprachliche Kompetenzen durch Lesekompetenz abzubilden. Die Ergebnisse der Studie warnen davor, aus Ergebnissen von Diagnosemaßnahmen im Bereich Lesen Schlüsse auf die Schreibkompetenz zu ziehen; die beiden literalen Fähigkeiten werden unterschiedlich beeinflusst und beeinflussen sich gegenseitig unterschiedlich: So zeigen sich keinerlei Effekte der Schreibfähigkeit auf das Leseverständnis. In diesem Zusammenhang ist kritisch anzumerken, wie die Autorinnen und der Autor selbst einräumen, dass für die vorliegende Publikation nur ein Teil der Daten ausgewertet wurde. Es fehlen die Daten des vierten Messzeitpunkts. Der untersuchte Zeitraum umfasst so nur 16 Monate. Ein längerer Untersuchungszeitraum könnte durchaus weitergehende Ergebnisse zu Lese- und Schreibkompetenzentwicklung und deren Zusammenhängen bringen, zumal einige der in der Studie gefundenen Effekte nur schwach waren.

Zudem deuten sich durch den Vergleich der unterschiedlichen mehrsprachigen mit der monolingual deutschen Sprachgruppe interessante Ergebnisse an, die eindeutig auf die Notwendigkeit der Berücksichtigung weiterer Variablen auf beide Kompetenzen hinweisen sowie auf die Notwendigkeit einer differenzierten Diagnose sprachlicher Fähigkeiten. Das Team aus Autor und Autorinnen weist selbst auf die Unverzichtbarkeit hin, in weiteren Untersuchungsschritten auch (die auch in der hier zugrunde liegenden Untersuchung von Mehrsprachigkeit vorliegenden) Entwicklungen und Beziehungen zwischen Lese- und Schreibfähigkeiten unterschiedlicher Sprachgruppen zu erforschen.

Kritisch zu betrachten in Bezug auf das Forschungsdesign ist die Messung von Schreibkompetenz ausschließlich durch die Variable der lexikalischen Diversität, was das Autorenteam selbst kritisch anmerkt. Hier wäre ein Ratingverfahren, das die Textqualität umfassender in den Blick nimmt, wünschenswert. Die Erläuterungen der Autorinnen und des Autors zum Stellenwert der Textlänge beim Kriterium der lexikalischen Diversität geben einen Einblick in die Schwierigkeit dieses Messinstruments.

So ist abschließend der Einschätzung des Autorenteams Recht zu geben, das darauf hinweist, dass eine Vielzahl von Faktoren Einfluss auf die Entwicklung von Schreibkompetenzen haben könne, der Lesekompetenz dabei aber eine untergeordnete Rolle zukomme. Die für die Schulpraxis wichtige Frage, welche Faktoren dies sind und wie diese gezielt durch den Unterricht beeinflusst werden können, beantwortet diese Studie nicht. Das war allerdings auch nicht ihr Anliegen; dies bestand vielmehr darin, in einem vorgelagerten Schritt gegenseitige Einflüsse sprachlicher Fähigkeiten zunächst zu identifizieren.

Diese Rezension wurde erstellt von:
Dr. Sonja Hensel, Lehrerin am Berufskolleg in Siegburg sowie Lehrbeauftragte an der Universität Siegen. Arbeitsschwerpunkte: Rechtschreib-, Schreib- und Lesedidaktik, selbstreguliertes und kooperatives Lernen.

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