Fragestellungen der Studie:

  • Entwickeln sich erste Rechtschreibkompetenzen in einem linearen und stufenförmigen Prozess?

Rezension zur Studie

Bulut, N. (2019). Rechtschreibentwicklung messen. In I. Kaplan & I. Petersen (Hrsg.), Schreibkompetenzen messen, beurteilen und fördern (S. 39‒56). Münster: Waxmann.

Die Entwicklung der Rechtschreibkompetenz wird oft als stufenförmiger Prozess aufgefasst, der von der Beherrschung einfacher (lautorientierter) Strategien zum Einsatz komplexer (orthographischer) Strategien verläuft. Demgegenüber besteht aber auch die Annahme, dass die Entwicklung der Rechtschreibkompetenz eher ein individuell ablaufender Prozess ist, der Phasen von Stagnation und Rückschlägen aufweisen kann.

Bulut analysiert hierzu Daten einer Längsschnittstudie, in welcher sechs Mal im Verlauf des ersten und zweiten Schuljahres die Rechtschreibung von bis zu 854 Grundschülerinnen und -schülern getestet wurde. Die Autorin untersucht vier Phänomene (zwei Reduktionsvokale, Auslautverhärtung, Schärfung), anhand derer sich die Entwicklung lautorientierter und komplexerer Rechtschreibstrategien nachweisen lässt.

Während die punktuelle Betrachtung eine stufenartige Entwicklung der Rechtschreibkompetenz nahelegt, bestätigt die Längsschnittanalyse einen hochgradig individuellen Verlauf: Bei rund 80 % der Schülerinnen und Schüler ist aufgrund von zwischenzeitlichen Rückschritten ein anderer Verlauf der Kompetenzentwicklung nachzuweisen, als nach dem Stufenmodell zu erwarten wäre.

Ihren Wert erhält die Studie von Bulut dadurch, dass sie das Stufenmodell, das derzeit die Diskussion beherrscht, als zu stark generalisiert erkennen lässt und stattdessen einen individuellen Verlauf der Rechtschreibentwicklung belegt. Dies ist – wie die Autorin zu Recht annimmt – von größter Bedeutung für die Strukturierung des Unterrichts und eine passgenaue individuelle Förderung, zumindest sofern durch häufige Tests der Entwicklungsstand der Schülerinnen und Schüler ausreichend genau ermittelt werden kann.

Allerdings bleiben die möglichen Ursachen für das Zustandekommen einer individuellen Entwicklung außerhalb der Betrachtung; somit wird zwar ein bislang unbekanntes Phänomen belegt, dieses aber nicht auf seine Ursachen hin analysiert. So wird z. B. kein Bezug der Kompetenzentwicklung zum vorausgegangenen Unterrichtsgeschehen hergestellt. Die Untersuchung möglicher Einflussfaktoren auf die Entwicklung der Rechtschreibkompetenz könnte somit eine lohnende Perspektive für zukünftige Forschungen sein, die sich aus Buluts Arbeit ergeben.

Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.

Reflexionsfragen für Lehrkräfte:

  • Welche Modelle/Vorstellungen über den Verlauf der Rechtschreibentwicklung leiten meine Unterrichtsplanung/-praxis im Rechtschreibunterricht? Wie gehe ich vor diesem Hintergrund mit individuellen Abläufen der Rechtschreibentwicklung meiner Schülerinnen und Schüler um? In welchem Ausmaß passe ich gegebenenfalls Unterrichtsabläufe und -planung daran an?
  • Stelle ich bei meinen Schülern oder Schülerinnen auch Phasen der Stagnation/des Rückgangs in der Rechtschreibentwicklung fest? Wie gehe ich damit um? Welche Möglichkeiten und welche Ressourcen sehe ich, um gegebenenfalls auf individuellen Förderbedarf zu reagieren?
  • Wie engmaschig und wie systematisch ermittle ich die Rechtschreibentwicklung der Schülerinnen und Schüler? Verfüge ich hierfür über geeignete Messverfahren?

Einleitend weist Bulut darauf hin, dass im Hinblick auf den Erwerb von Lese- und Rechtschreibkompetenzen derzeit – in Anlehnung an Frith (1985) – Stufenmodelle favorisiert werden, bei denen die Entwicklung ausgehend von der Beherrschung einfacher Strategien (lautorientiertes Schreiben) zum Einsatz komplexer Strategien (orthographisches Schreiben) voranschreitet. Allerdings deuteten aktuelle Forschungsergebnisse darauf hin, dass die Annahme von derartigen Entwicklungsstufen evtl. eine zu starke Abstraktion und Vereinfachung des tatsächlichen individuellen Lernprozesses darstelle, da internale (z. B. kognitive Fähigkeiten) oder externale (z. B. Schule, Elternhaus) Faktoren wirksam werden könnten. Selbst dann, wenn Studien scheinbar interindividuelle Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten bei der Entwicklung der Rechtschreibfähigkeit ergeben, muss nach Ansicht der Autorin damit gerechnet werden, dass die eigentlichen Entwicklungsprozesse wesentlich individuell geprägt sind.

Bulut rekurriert auf Untersuchungen in anderen Kompetenzbereichen (Alphabetisierung, Mathematik, Lesen), die z. B. erwarten lassen, dass Stagnationen, Lernrückschritte – z. T. sogar mehrfach mit Fortschritten wechselnd – auftreten.

Von der Darstellung dieses Forschungsstandes ausgehend, untersucht die Autorin die Rechtschreibentwicklung auf der Wortebene, wobei sie differenziert nach deren drei – für die Graphematik entscheidenden – Ebenen vorgeht:

  • phonographische Ebene: regelhafte Laut-Buchstaben-Zuordnung. Die Autorin testet die Beherrschung dieser Ebene anhand der Verschriftlichung von Schwa-Lauten.
  • silbische Ebene: Diese wird anhand der Verwendung von Doppelkonsonantengraphemen an Silbengelenkstellen überprüft (z. B. Hammer).
  • morphologische Ebene: Deren Beherrschung lässt sich an der Schreibung von Silbenendrändern erkennen, so im Falle der Auslautverhärtung (z. B. Mund).

Um die Beherrschung dieser Prinzipien zu überprüfen, bieten sich zwei Testverfahren an: entweder die punktuelle Testung oder eine Lernverlaufsdiagnostik in kurzen und regelmäßigen Abständen über einen längeren Zeitraum hinweg. Um individuelle Unterschiede beim Ablauf des Lernprozesses belegen zu können, entscheidet sich die Autorin für die Lernverlaufsdiagnostik.

Bulut geht dabei für die folgende Untersuchung von zwei Hypothesen aus:

  1. Ermittelt man die Wortschreibungskompetenz lediglich punktuell, so werden sich – wie es bei einem Stufenmodell zu erwarten ist – Schreibungen, die dem phonographischen Prinzip folgen, als besser beherrscht erweisen als Schreibungen, die auf dem silbischen oder morphologischen Prinzip beruhen.
  2. Bei einer Erfassung der Rechtschreibkompetenz im Rahmen einer Lernverlaufsdiagnostik über mehrere Messzeitpunkte hinweg hingegen zeigen sich hochgradig individuelle Lernverläufe, die auch Phasen der Stagnation oder des Rückschritts enthalten können. Eine überindividuell feststehende Abfolge der Kompetenzentwicklung, wie sie punktuelle Erhebungen nahelegen, ist deshalb nicht zu erkennen.

Bei der von der Autorin gewählten Lernverlaufsdiagnostik rücken die Erfassung und der Vergleich von Mittelwerten in den Hintergrund, stattdessen gerät der individuelle Lernverlauf ins Zentrum der Betrachtung.

Stichprobe
Die Daten der Untersuchung von Bulut stammen aus dem Projekt „Niemanden zurücklassen – Lesen macht stark – Grundschule“ (= LMS-Studie) des Instituts für Qualitätsentwicklung an Schulen in Schleswig-Holstein (IQSH) in Kooperation mit dem Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache (Universität zu Köln) und dem Leibnitz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik. Es handelt sich also um eine Sekundäranalyse von Daten, die ursprünglich nicht für diesen Zweck erhoben worden waren.

Im Rahmen der als Längsschnitt angelegten LMS-Studie (2014–2016) wurden Rechtschreibkompetenzen von Grundschülerinnen und Grundschülern des Großraums Kiel / Lübeck im Verlauf der ersten beiden Schuljahre an insgesamt sechs Messzeitpunkten erfasst. Da Kinder mit besonderem Förderbedarf (etwa bei Lese-Rechtschreib-Störungen) die Ergebnisse verzerrt hätten, wurden deren Daten von Bulut nicht berücksichtigt. Entsprechend gingen die Ergebnisse von 854 Kindern (aus 41 Klassen von 20 Grundschulen, davon 51 % Mädchen) in die Untersuchungen ein. Ein Elternfragebogen zum sozioökonomischen Status, der zu Beginn des ersten Schuljahres ausgefüllt worden war, zeigte – bei breiter Streuung – einen durchschnittlichen Status der Kinder. 83 % der Kinder waren einsprachig deutsch (wozu noch 6 % kommen, die in mehrsprachigem Umfeld deutsch sprechen), 11 % der Kinder verwendeten neben Deutsch auch weitere Sprachen.

Zur Überprüfung ihrer ersten Hypothese lagen der Verfasserin die Ergebnisse von 719 Kindern vor, die Prüfung der zweiten Hypothese basiert auf den Daten von 685 Kindern.
Die Erhebung der Daten erfolgte jeweils zu Beginn, Mitte und Ende des ersten und zweiten Schuljahres im Klassenverband. Um die Durchführung der Tests zu standardisieren, wurde den Lehrkräften ein Manual zur Verfügung gestellt.

Erhebungsinstrumente
Die Kinder erhielten zu jedem Testtermin ein Arbeitsblatt, auf dem jeweils acht Gegenstände abgebildet waren. Die Lehrkraft benannte diese Gegenstände, die Kinder erhielten die Gelegenheit, sich die Wörter leise vorzusprechen, und sollten diese dann neben dem passenden Bild aufschreiben.
Um einerseits eine Längsschnittentwicklung belegen zu können, aber andererseits Deckeneffekte durch Gewöhnung an den Test verhindern zu können, wurden durch die Aufgabenbögen zwar immer dieselben Kompetenzen abgefragt, die Abbildungen variierten jedoch von Testtermin zu Testtermin geringfügig. So wurden in der 1. Klasse verstärkt lautorientiert zu schreibende Worte mit unkomplizierten Silbenanfängen/-enden eingesetzt, in Klasse 2 wurden die Wörter zum Teil komplexer (längere Wörter mit Konsonantenclustern an Anfang oder Ende). Im Gegensatz zu den üblichen Standards der Lernverlaufsdiagnostik variiert damit der Schwierigkeitsgrad. Bulut zieht für ihre Analysen deshalb nur Schreibungen heran, die zu allen Messzeitpunkten abgefragt wurden. Damit können vier Phänomene erfasst werden:
e-Schwa → Tafel, Stiefel
a-Schwa → Hammer
Schärfung → Hammer
Auslautverhärtung → Mund

Auswertung
Für jedes Kind wurde der Zeitpunkt ermittelt, ab dem ein bestimmtes Rechtschreibphänomen beherrscht wurde. Dieser Zeitpunkt galt als erreicht, sobald ein Kind das entsprechende Testwort dieses Rechtschreibphänomens dauerhaft orthographisch richtig schrieb. Für die Überprüfung der ersten Hypothese wurden die Ergebnisse des dritten Messzeitpunkts (= Ende der 1. Klasse) ausgewertet.

Zur Prüfung der zweiten Hypothese wurden Liniengraphiken eingesetzt, auf deren x-Achse die Messzeitpunkte aufgetragen sind, während auf der y-Achse die Schreibvarianten angegeben werden. Die Schreibvarianten wurden danach sortiert, ob sie lautorientiert, mit/ohne graphische Repräsentation oder orthographisch richtig verschriftlicht wurden. In diese Graphiken wurde für jeden Schüler und jede Schülerin der durch die Tests ermittelte individuelle Lernverlauf eingetragen. Für jedes der vier untersuchten Rechtschreibphänomene wurde eine eigene Graphik erarbeitet.

Die erste Hypothese Buluts wird durch die Untersuchung bestätigt: Die richtige Schreibung der Schwa-Laute gelingt am Ende des ersten Schuljahres häufiger als die Schreibung im Falle der Auslautverhärtung und Schärfung. Damit gelingt die Schreibung auf der phonographischen Ebene schneller als auf der silbischen oder morphologischen Ebene.  

Auch die zweite Hypothese wird bestätigt: Der wirre Verlauf der Linien in den Liniengraphiken wird von Bulut so interpretiert, dass die individuelle Rechtschreibentwicklung nicht linear verläuft. Darüber hinaus werden von 80 % der Kinder die vier untersuchten Rechtschreibphänomene nicht in der Reihenfolge beherrscht, die nach dem Stufenmodell und nach den Ergebnissen der punktuellen Messung zu erwarten gewesen wären.

Stufenmodelle sind nicht nur derzeit dominant, wenn es um die Beschreibung der Rechtschreibentwicklung geht, sie bilden häufig auch die Grundlage didaktischen Handelns beim Einüben der Rechtschreibung im Schulunterricht. Die Autorin hält dies nicht für ausreichend, da ihre Studie deutlich individuelle Lernverläufe nachweist. Sie leitet daraus die Notwendigkeit ab, solche individuellen Verläufe im Unterricht im Auge zu behalten, um bedarfsgerecht fördern zu können. Da zudem die Heterogenität in Schulen zunehme, fordert die Autorin, in regelmäßigen Abständen die Lernverläufe zu erfassen und die Befunde zu nutzen, um Fördermaßnahmen daran anzupassen. Allerdings sei es nicht einfach, hierfür geeignete Testmaterialien zu entwickeln.

Den Aussagen der Autorin ist beizupflichten. Besonders wichtig ist der Nachweis individueller Lernverläufe, weil sich daraus nahezu automatisch die Folgerung ergibt, bei der Planung des Rechtschreibunterrichts nicht starr schematisch einem Stufenmodell zu folgen, sondern zunächst durch (regelmäßig wiederholte) Testung den tatsächlichen individuellen Lernstand kennenzulernen und die Möglichkeit von Stagnation, Rückschlag oder mehrfacher Richtungsänderung des Lernverlaufs zu berücksichtigen. Nur unter diesen Bedingungen kann es überhaupt gelingen, gezielt auf den individuellen Förderbedarf zu reagieren – sofern das die Zeitressourcen der Lehrperson zulassen. Übrigens erscheint angesichts der Bedeutung des Aufsatzes – es handelt sich um nicht weniger als eine empirisch begründete, vorsichtige Zurückweisung des derzeit wirkmächtigsten Modells zur Rechtschreibentwicklung – der Aufsatztitel als zu unspezifisch.

So wichtig diese Befunde auch sind, so enthält die Untersuchung doch auch Punkte, die noch einer Klärung bedürfen und damit zukünftigen Forschungsbedarf abstecken. Als Ursachen für die hochgradig individuellen Lernverläufe werden internale und externale Faktoren angegeben. Diese werden aber bestenfalls sehr oberflächlich behandelt. Hier verharrt die Autorin bei der bloßen Hypothese: Der Versuch, derartige Faktoren möglichst vollständig zu benennen und ihre möglichen Wirkungsrichtungen und Wirkungsmechanismen nachzuweisen, zu erklären oder gar zu quantifizieren, wird nicht unternommen, obwohl sich daraus gegebenenfalls wichtige theoretische und praktische Einsichten im Hinblick auf die Planung von Unterricht und von Fördermaßnahmen gewinnen ließen.

Generell geraten konkrete Unterrichts- und Fördermaßnahmen völlig aus dem Blick: Die Frage, ob Stagnation, Rückschlag oder Richtungsänderung bei der Entwicklung von Rechtschreibkompetenzen auch eine Folge einer bestimmten Art von Unterrichtspraxis sein könnten, wird nicht gestellt. Das ist einerseits bedauerlich, lässt aber andererseits Fragestellungen und Perspektiven für zukünftige Untersuchungen erkennen.

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Diese Rezension wurde erstellt von:
Dr. Heinz Sander, Lehrer am Gymnasium der Stadt Kerpen – Europaschule und Privatdozent an der Universität zu Köln

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