Fragestellungen der Studie:
Rezension zur Studie
Zheng, L., Bhagat, K. K., Zhen, Y. & Zhang, X. (2020). The Effectiveness of the Flipped Classroom on Students’ Learning Achievement and Learning Motivation: A Meta-Analysis. Educational Technology & Society, 23(1), 1–15.Flipped Classroom steht für Unterrichtsmethoden, bei denen sich Schülerinnen und Schüler durch Erklärvideos außerhalb des Unterrichts, z. B. zu Hause oder in freien Lernphasen in der Schule, selbstständig neue Lerninhalte aneignen sollen. Anschließend werden die Inhalte im Unterricht durch passende Lernaufgaben geübt und vertieft.
Zheng et al. untersuchen in einer Meta-Analyse die Wirksamkeit solcher Methoden in Bezug auf die Leistung und Motivation der Lernenden. Außerdem betrachten sie zwölf potenzielle Moderatorvariablen. Berücksichtigt werden Befunde aus 95 Studien, die zwischen 2013 und 2019 publiziert wurden und Daten von 15.386 Schülerinnen und Schülern sowie Studierenden umfassten.
Im Ergebnis sind Flipped-Classroom-Methoden wirksamer als traditionelle Lehrformen. Die Auswertungen erbringen mittlere Effekte (Hedges’s g = .66) sowohl für Leistung als auch für Motivation. Die Effekte sind abhängig von der Stichprobengröße, der Interventionsdauer und der Region, in der die Untersuchungen durchgeführt wurden: In kleineren Gruppen (n = 1–50) werden stärkere Effekte erzielt als in größeren Gruppen (n > 50), Interventionen über fünf bis acht Wochen sind wirksamer als kürzere und längere Interventionen. Als besonders wirksam erweist sich Flipped Classroom in Studien aus Afrika. Die anderen Moderatorvariablen (Lernbereich, traditionelle oder innovative Methode, vorunterrichtliche Interaktionen, methodische Werkzeuge, Ressourcen und Face-to-Face-Interaktionen) beeinflussen die Wirksamkeit von Flipped Classroom nicht.
Die Ergebnisse legen nahe, dass Flipped-Classroom-Methoden in vielen Fach- und Instruktionskontexten sowie insbesondere für einen Zeitraum von fünf bis acht Wochen als lernwirksam und motivationsförderlich einzuschätzen sind. Es fällt jedoch auf, dass von den 95 Studien lediglich 17 einen Schulbezug besitzen. Zwar erscheint die höhere Wirksamkeit in kleineren Gruppen für den Schulunterricht eher günstig, angesichts anzunehmender Vorteile von Studierenden bei der Regulation der eigenen Lernaktivitäten lässt sich aber vermuten, dass Schülerinnen und Schüler tendenziell mehr Unterstützung benötigen, damit sie Flipped Classroom erfolgreich praktizieren können. Insofern sind spezifischere Studien erforderlich, um schulische Wirkfaktoren von Flipped-Classroom-Methoden zu identifizieren.
Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.
Reflexionsfragen für Lehrkräfte:
Reflexionsfragen für Schulleitungen:
In der Einleitung stellen Zheng et al. fest, dass Flipped Classroom in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit erhalten hat. Es handelt sich dabei um Lehrmethoden, bei welchen sich Schülerinnen und Schüler durch Erklärvideos außerhalb des Unterrichts selbstständig neue Lerninhalte aneignen sollen, bevor diese im Unterricht durch passende Lernaufgaben geübt und vertieft werden. Hierdurch könne die Arbeitszeit für die Durchdringung der neuen Inhalte ausgeweitet werden. Den Ausführungen des Autorenteams zufolge wurden in der Praxis bislang verschiedene Ansätze zur Vermittlung und Vertiefung von Lerninhalten implementiert. In der Literatur zeige sich jedoch derzeit kein einheitliches Befundmuster dahingehend, inwiefern diese Methoden im Vergleich zum herkömmlichen Unterricht lernförderlicher seien (z. B. hinsichtlich der Lernleistungen oder der Zufriedenheit). Deswegen seien systematische Meta-Analysen nötig.
Im weiteren Verlauf ihres Beitrags stellen Zheng et al. Ergebnisse von bereits publizierten Übersichtsarbeiten und Meta-Analysen zusammen, aus denen sie die Notwendigkeit für ihre eigene Analyse ableiten:
Im Anschluss an diese Zusammenschau argumentieren Zheng et al. für die Notwendigkeit ihrer eigenen Meta-Analyse, da eine gemeinsame Betrachtung der Leistung und Motivation von Lernenden bislang nicht vorliege. Außerdem existiere keine Meta-Analyse, die auf die Tätigkeitstheorie rekurrieren würde. Weiterhin sei bislang nur eine geringe Anzahl an Moderatorvariablen analysiert worden oder die Meta-Analysen seien nur für eine inhaltliche Domäne (z. B. Pharmazie) durchgeführt worden. Daher formulieren Zheng et al. zwei Fragestellungen:
Datenbasis
Zur Beantwortung ihrer Fragestellungen werten Zheng et al. 95 Studien von 2013 bis 2019 aus. Insgesamt werden dabei Ergebnisse von 15.386 Probanden aus der Primarstufe (3,16 %), Sekundarstufe I und II (14,74 %) und Hochschulebene berücksichtigt (82,1 %). Recherchiert wurde in den Literaturdatenbanken Web of Science, Scopus und Eric.
Untersuchungsablauf
Es wurden nur englischsprachige Artikel aus peer-reviewten Fachzeitschriften im quasi-experimentellen oder experimentellen Design berücksichtigt. In den Studien mussten darüber hinaus das Vorwissen der Probanden kontrolliert und Versuchsleitereffekte ausgeschlossen werden. Zudem sollten sie die für die Meta-Analyse notwendigen statistischen Kennwerte berichten. Des Weiteren wurde eine Kodierung der Studien auf der Grundlage der Dimensionen der Tätigkeitstheorie vorgenommen. Die Eindeutigkeit der Definition und Zuordnung wurde mit Hilfe von drei unabhängigen Kodierern geprüft. Die Interrater-Reliabilität lag bei Cohens Kappa = .91.
Statistische Analysen
Zheng et al. berichten für die Einschätzung der Wirksamkeit der Flipped-Classroom-Methoden die Effektstärke Hedges’s g. Diese wurde im ersten Schritt für jede konsultierte Studie einzeln und im zweiten Schritt über alle Studien hinweg global berechnet. Außerdem wurden die Konfidenzintervalle für den globalen Wert sowie der Einfluss der Moderatorvariablen mit Hilfe von Random-Effects-Modellen ermittelt. Der Ausschluss eines Publikations-Bias wurde durch die klassische Fail-safe-N-Methode und Orwin’s Fail-safe-N-Methode betrachtet.
Die Analyse von Zheng et al. weist moderate Effekte für die Leistung (Hedges’s g = .663; Qtotal = 1192.145, z = 10.877, p < 0.001) und die Motivation (Hedges’s g = .661; Qtotal = 70.95, z = 2.999, p < 0.005) aus. Moderiert werden diese Ergebnisse durch die Stichprobengröße, die Interventionsdauer und die Region: Kleinere Stichproben (n = 1–50) erzielen größere Effekte als größere (n > 50), Interventionen über fünf bis acht Wochen sind wirksamer als kürzere (Dauer < 5 Wochen) und längere (Dauer > 8 Wochen) und besonders wirksam erweist sich Flipped Classroom in Afrika.
Der Lernbereich (QB = 1.266, df = 3, p > .05), traditionelle oder innovative Flipped-Classroom-Methoden (QB = 0.405, df = 1, p > .05), vorunterrichtliche Interaktionen (QB = 2.712, df = 3, p > .05), methodische Werkzeuge (QB = 4.753, df = 3, p > .05) und Ressourcen (QB = 3.521, df = 2, p > .05) sowie Face-to-Face-Interaktionen (QB = 0.109, df = 1, p > .05) beeinflussen die Wirksamkeit von Flipped Classroom nicht. Ein Publikations-Bias konnte ausgeschlossen werden.
Hintergrund
Die Studie von Zheng et al. beschäftigt sich mit der Wirksamkeit von Flipped Classroom. Damit beleuchtet sie einen relevanten Untersuchungsgegenstand, der im Zuge der Digitalisierung von Schule und Unterricht von Seiten der Wissenschaft und Schulpraxis zunehmend Aufmerksamkeit erhält.
Zunächst beschreibt die Autorengruppe Flipped Classroom und stellt heraus, dass diese Methoden im Vergleich zum herkömmlichen Unterricht die Zeit für die Übung und Vertiefung neuer Lerninhalte ausweiten. Hierdurch entstünde auch mehr Interaktion innerhalb der Lerngruppe und mit der Lehrkraft. Im Anschluss rekurrieren Zheng et al. auf die damit verbundene Befundlage in der Literatur. Einzelstudien ließen offen, inwiefern die Methoden wirksamer seien als herkömmlicher Unterricht. Bislang veröffentlichte Überblicksarbeiten und Meta-Analysen verdichteten die Annahme, dass Flipped-Classroom-Methoden wirksamer seien. Jedoch würden sie primär auf die Lernleistungen fokussieren und wichtige Moderatorvariablen außen vor lassen. Anschließend leiten sie ihre Fragestellungen ab.
Die Argumentation und Hinführung zur eigenen Studie erscheinen aus Sicht des Rezensenten eingeschränkt gelungen. So fällt auf, dass keine lerntheoretischen Bezugspunkte für die Relevanz der diskutierten Moderatorvariablen gesetzt werden. Zudem wäre es bereits an dieser Stelle hilfreich gewesen, vertieft auf die Tätigkeitstheorie einzugehen, um den theoretischen Rahmen für die Meta-Analyse mit entsprechenden Begründungen deutlicher herauszustellen. Die Auswahl des berücksichtigten Zeitraums von 2013 bis 2019 wird seitens der Autorengruppe gesetzt, aber nicht begründet. Ebenso verhält es sich mit Blick auf die gleichzeitige Betrachtung der Lernleistung und Motivation der Schülerinnen und Schüler bzw. Studierenden.
Design
Das Studiendesign und die statistischen Analysen werden ausführlich und gut nachvollziehbar berichtet. Die Ergebnisdarstellungen in schriftlicher und tabellarischer Form helfen bei der Erfassung der zentralen Ergebnisse. Die methodische Vorgehensweise entspricht den für Meta-Analysen üblichen Konventionen. Hierzu wird auch immer wieder auf Primärquellen verwiesen.
Ergebnisse
Zheng et al. erreichen mit ihrer Untersuchung das anvisierte Ziel. Sie stellen heraus, dass Flipped-Classroom-Methoden hinsichtlich der Lernleistungen und der Motivation wirksamer sind als herkömmlicher Unterricht. Dies ist unabhängig vom Unterrichtsfach, der Bildungsstation, der traditionellen und innovativen Methode, dem gewählten Studiendesign, der Anzahl gewählter Lernmethoden, unterrichtlicher Interaktionsformen im Vorfeld und von Face-to-Face-Interaktionen sowie den im Vorhinein verwendeten Ressourcen und Tools. Hieraus ist eine gewisse Stabilität des beobachteten Effekts über alle zuvor genannten Variablen hinweg anzunehmen. Jedoch sei darauf hingewiesen, dass bei 95 betrachteten Studien lediglich 17 schulbezogene Studien berücksichtigt werden konnten. Der überwiegende Teil der Studien stammte aus dem universitären Kontext.
Als bedeutsam erweisen sich die Moderatorvariablen der Stichprobengröße, die Interventionsdauer und die Region:
Die Moderation über die Stichprobengröße wird nachvollziehbar mit einer geringeren Variation bei kleineren Samples begründet. Die Moderation über die Interventionsdauer wird mit einem hinreichenden Maß für die Gültigkeit des Effekts begründet. Außerdem führen Zheng et al. aus, dass zu lange Interventionen die Variation vergrößern würden. An dieser Stelle wäre es aus Sicht des Rezensenten wünschenswert gewesen, wenn die Autorengruppe näher darauf eingegangen wäre. Welche Faktoren vermuten sie als dafür ausschlaggebend? In Afrika fällt die Effektstärke besonders hoch aus, woraus die Nützlichkeit von Flipped Classroom für diese Region zur Förderung der Lernleistungen und Motivation abgeleitet wird. Interessanterweise geht die Autorengruppe an dieser Stelle auch auf die Motivation ein, obwohl diese Variable in der Moderationsanalyse überhaupt nicht betrachtet wurde. Zheng et al. haben diese Analyse lediglich für die Lernleistungen durchgeführt.
Als Implikationen für zukünftige Interventionen halten Zheng et al. fest, dass vermehrt auf die Charakteristik der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu achten sei. Deren bisherige Erfahrungen, ihr Vorwissen, kultureller Hintergrund, ihre computerbezogenen Kompetenzen und ihre Einstellung gegenüber Flipped Classroom erscheinen relevant. Dieser Aussage pflichtet der Rezensent bei, jedoch fehlen an dieser Stelle literaturbasierte Begründungen. Die Relevanz der Stichprobengröße wird angemessen diskutiert. Zheng et al. schlagen vor, dass diese nicht größer als n = 300 sein sollte, um potenzielle Variationsquellen niedrig halten zu können. Weiterhin spricht sich die Autorengruppe für eine Interventionsdauer von fünf bis acht Wochen aus. Kürzere Interventionen seien nicht lang genug, um einen Effekt abbilden zu können, da bereits die Einführung von Flipped Classroom Zeit in Anspruch nehme. Warum längere Interventionen weniger günstig seien, bleibt an dieser Stelle unbeantwortet.
Neben diesen Implikationen empfehlen Zheng et al. die Nutzung innovativer Unterrichtsmethoden (z. B. Problemlösen, kooperatives Lernen), um die Wirksamkeit der Flipped-Classroom-Methoden maximieren zu können. Diese Aussage irritiert mit Blick auf eine fehlende Signifikanz der Effektstärken-Werte in der Gegenüberstellung der traditionellen und innovativen Auslegung dieser Unterrichtsmethoden. Einerseits rechtfertigen die eigenen Zahlen diese Argumentation nicht, andererseits ist die Gestaltung von kognitiv aktivierendem Unterricht mit Hilfe innovativer Lernmethoden ein komplexes Unterfangen und von vielen Faktoren abhängig. In Deutschland könnte allein die Bereitstellung oder Entwicklung professioneller Erklärvideos unter den derzeitigen Bedingungen in Schule und Unterricht herausforderungsvoll sein.
Zheng et al. stellen abschließend die Limitationen ihrer Studie vor: Aus ihrer Sicht müssten zukünftige Meta-Analysen auf eine größere Anzahl an Studien zurückgreifen. Auch die Berücksichtigung weiterer Moderatorvariablen sei erforderlich. Darüber hinaus sei die Betrachtung weiterer abhängiger Variablen, wie z. B. des Lernverhaltens und der Lerneinstellung, erforderlich, um deren Einflüsse auf die Flipped-Classroom-Methoden zu identifizieren.
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